Hasard, Ribault und Aloysius begannen unverzüglich mit dem Abstieg auf der glatten Fläche. Die anderen Männer standen wie erstarrt da und blickten hinunter.
Als Pater David ihnen folgen wollte, winkte Hasard ab.
„Drei Mann genügen, David“, sagte er. „Die anderen sollen vorsichtig nach oben steigen. Wir erledigen das schon.“
„Oben gibt es eine Felsenhöhle!“ rief Aloysius. „Geht dort hinein und bereitet ein Lager in der Nische neben der Höhle!“
Pater David nickte beklommen. Vorsichtig arbeiteten sie sich weiter nach oben, während die drei anderen Männer weiter nach unten stiegen, bis sie die Eisbarriere erreichten.
Hasard drehte Fred Finley behutsam auf den Rücken und sah in ein vor Schmerzen grau verzerrtes Gesicht. Finley stöhnte leise.
Unendlich erleichtert ging Jean Ribault in die Knie und beugte sich über Finley. Gott sei Dank, er lebte, aber er schien unerträgliche Schmerzen zu haben.
„Kannst du aufstehen?“ fragte Ribault.
„Nein, ich kann nicht. Irgend etwas ist mit meinem rechten Bein. Der Schmerz zieht mir bis in den Schädel.“
„Ihn hier zu untersuchen, hat keinen Zweck“, sagte Aloysius. „Vermutlich hat er sich was gebrochen oder verstaucht. Wir ziehen ihn nach oben und bringen ihn in die Felsnische. Dort können wir in aller Ruhe nachsehen.“
Zwei Seile wurden zusammengeknotet und Fred Finley unter die Achseln geschoben.
Hasard und Jean zogen ihn vorsichtig nach oben. Aloysius stieg dicht hinter Fred auf, um ihn abzufangen, falls einer der beiden Männer abrutschen sollte.
Es war eine mühsame Plackerei, bis sie ihn endlich oben hatten. Dort warteten schon die anderen, um ihn in Empfang zu nehmen.
„So ein Mist“, sagte Finley, „mir ist was ins linke Auge geflogen, und dann war ich plötzlich blind. Leider habe ich nur das eine.“
Das rechte Auge bedeckte eine schwarze Klappe. Finley hatte es in einem Jahre zurückliegenden Kampf gegen Piraten verloren.
„Nur ruhig“, sagte Hasard. „Reden kannst du später. Wir werden erst einmal sehen, was dir fehlt.“
Vorsichtig trugen sie ihn zu der Felsnische hinüber, die direkt an eine mittelgroße Höhle in den Felsen anschloß. Die Männer hatten bereits Decken ausgebreitet und einen weichen Untergrund geschaffen. Sie alle sahen besorgt auf Finley, dessen Gesicht immer noch vor Schmerzen verzerrt war.
„Hoffentlich hat er sich nichts gebrochen“, murmelte Ribault. „Das wäre nicht auszudenken.“
„Es scheint aber doch so, Jean“, meinte Karl von Hutten. „Allein der Gesichtsausdruck sagt alles.“
Pater David und Pater Aloysius, die sich am besten auf ärztliche Kunst verstanden, nahmen sich Fred Finley vor. Als sie ihm den rechten Stiefel auszogen, bäumte sich Fred hart auf und fiel stöhnend auf die Decken zurück.
Die beiden Padres warfen sich einen besorgten Blick zu, sagten aber vorerst kein Wort.
Besorgt standen die anderen herum. Sie wußten nicht, was sie tun sollten, und starrten auf die beiden Padres, als würden die die Erlösung bringen.
„Er hat sich den rechten Knöchel gebrochen“, sagte Aloysius in die Stille hinein, nachdem er das Bein abgetastet hatte.
Der Riese David bestätigte das.
„Ja, ein Knöchelbruch, kein Zweifel. Er ist sehr hart in die Eisbarriere geprallt.“
„Kann es nicht doch eine Verstauchung sein?“ fragte Jean Ribault hoffnungsvoll.
„Leider nein.“
„Knöchelbruch“, sagte Hasard tonlos, „auch das noch. Weiter hat uns auch nichts gefehlt.“
„Es hätte schlimmer ausgehen können“, sagte Aloysius. „Er hätte auch mit dem Schädel aufs Eis prallen und sich einen Schädelbruch zuziehen können. Alles in allem kann man noch von einem Glücksfall sprechen.“
Beklommenes Schweigen folgte seinen Worten.
Fred Finley richtete den Oberkörper ein wenig auf, doch der Padre drückte ihn sofort auf das provisorische Lager zurück.
„Laßt mich hier liegen“, flüsterte er, „ich bin euch auf dem Marsch nur hinderlich. Wenn ihr mir etwas Verpflegung da laßt und etwas zu trinken, halte ich es hier wochenlang aus. Ich will nicht, daß der Trupp meinetwegen behindert wird.“
Carberry schwoll bei diesen Worten sogleich der Kamm. Er schob das Rammkinn vor, das jetzt mit dem Bart noch wilder und gröber wirkte, und donnerte los: „Glaubst denn du krummbeiniger Zitteraal, daß wir dich hier einfach liegen lassen, was, wie? Für was hältst du uns, du Rahenschwenker? Liegen lassen? Pah!
Damit dich der nächste hungrige Puma frißt oder dir Eisblumen aus den Ohren wachsen? So was will ich nicht noch einmal hören, sonst hast du links auch gleich noch einen Knöchelbruch und kannst auf dem Bauch nach Potosi rutschen.“
Die Spannung löste sich unter leisem Gelächter, weil der Profos wieder mal so liebliche und freundliche Vergleiche zur Hand hatte.
Fred Finley lächelte schwach und wollte etwas sagen. Da geschah etwas, was die Männer total verblüffte und selbst den Profos zusammenzucken ließ.
Die rechte Faust von Pater Aloysius zuckte kurz und hart vor. Sie kam so schnell, daß die Bewegung kaum zu sehen war. Er hatte nicht lange gefackelt und zugeschlagen, noch bevor Fred Finley begriff, was überhaupt geschah.
Aloysius schlug „eine mächtige Kelle“, wie das auch der Profos respektvoll ausdrückte, und hinter seinem Schlag saß die Kraft eines ausgewachsenen Ochsen. Diese Kelle traf Fred Finley wie eine lautlose Explosion an der Schläfe.
Finleys Gesichtsausdruck verklärte sich, als hätten soeben die Englein für ihn gesungen. Schlaff und entspannt fiel er auf das Lager zurück und rührte sich nicht mehr.
Im Gesicht des Profos zuckte es. Dann räusperte er sich einmal und strich wieder über seinen stoppeligen Bart.
„Das mußte sein“, sagte Aloysius trocken. „Ich mußte ihn betäuben, damit wir den Fuß richten und schienen können. In wachem Zustand hätte er sich die Kehle heiser gebrüllt. Gerade bei einem Knöchelbruch sind die Schmerzen unerträglich.“
Jetzt konnten sie in aller Ruhe an die Arbeit gehen. Alle beide Padres verstanden sich hervorragend darauf. Aloysius tastete noch einmal alles ab.
„Glück im Unglück“, sagte er lakonisch, „der Knöchel ist nicht so gebrochen, daß Splitter die Haut durchstoßen haben. Es ist ein glatter, sauberer Bruch, und daher auch nicht weiter kompliziert. Er kann eben nur eine Zeitlang nicht mehr auftreten.“
Sie richteten das Bein aus und schienten es mit kleinen harten Brettern, die sich in Aloysius Arznei-Kiste befanden. Beide arbeiteten flink und geschickt. Sie standen dem Kutscher in nichts nach.
„Fertig“, sagte David. „Das wird glatt und sauber verheilen, braucht aber leider seine Zeit. Unter Umständen können das Wochen sein.“
„Und was wird jetzt?“ fragte Hasard. „Wir müssen ihn tragen.“
Das Lächeln des Paters war recht sparsam.
„Ja, aber nicht lange. Wir befinden uns vor der Puna. In zwei Tagesmärschen, dicht am Rande der Puna, lebt eine Indio-Familie, die ich gut kenne. Sie sind sehr hilfsbereit und werden ihn aufnehmen, bis wir aus Potosi zurückgekehrt sind.“
Der Profos schüttelte staunend den Kopf.
„Bei allem heiligen Respekt, Bruder, aber du hast immer zur rechten Zeit etwas auf der Pfanne“, sagte er anerkennend.
„Das sind meine bescheidenen Kontakte zum Herrn, dessen Wege unerforschlich sind“, sagte Aloysius lächelnd.
Die anderen grinsten bis über die Ohren, als sie das hörten. Aloysius war so ganz nach ihrem Geschmack. Ohne ihn hätten sie sich in der Bergwelt nicht mehr zurechtgefunden, und Probleme wie die mit Fred Finley wären nur schlecht zu bewältigen gewesen.
„Bei dieser Indio-Familie sehe ich die einzige Möglichkeit“, sagte der Pater. „Es ist die beste und vernünftigste Lösung, denn wir können ihn nicht nach Potosi mitnehmen. Es gibt allerdings auch noch eine andere, aber das muß Sir Hasard entscheiden. Zwei Männer könnten Finley auf einer Tragbahre über Stock und Stein nach Tacna zurückschleppen. Was ist dir lieber, Sir?“
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