Es war gegen zwei Uhr in der Nacht.
Smoky und Stenmark gingen die sogenannte „Friedhofswache“, die von Mitternacht bis um vier Uhr in der Frühe dauerte. In regelmäßigen Abständen fanden sie sich am Ruderhaus ein, um die Ankerpeilung zu überprüfen.
Die beiden Peilobjekte hoben sich einigermaßen sichtbar gegen den Nachthimmel ab. Sonst war die Sicht zur Küste ziemlich beeinträchtigt. Längst waren in der anfänglich so klaren Nacht Wolken aufgezogen, die zeitweise den Mond verdeckten.
Smoky und Stenmark, die schon der Kälte wegen ständig in Bewegung blieben, enterten gerade über den Steuerbordniedergang von der Kuhl zum Quarterdeck auf.
Da ging plötzlich ein leichter Ruck durch das Schiff.
„Was war das?“ fragte Stenmark.
Der bullige Smoky zuckte mit den Schultern.
„Frag mich was Leichteres. Vielleicht ist einer aus seiner Koje gefallen.“
„Wohl auch immer einen Scherz auf den taufrischen Lippen, was?“ Stenmark war nicht gerade bester Laune. „Ich finde, wir sollten schleunigst die Ankerpeilung überprüfen. Irgend etwas stimmt da nicht!“
„Na schön“, meinte Smoky und gähnte. „Ich verhol mich zum Ruderhaus. Du kannst dich ja sonst ein bißchen umsehen.“
Augenblicke später peilte Smoky zu den beiden Landmarken – der Tanne und dem Spitzfelsen. Und von da an war es vorbei mit der Nachtruhe der Seewölfe.
Dem rauhbeinigen Smoky lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Mit Entsetzen stellte er fest, daß die Peilung rapide auswanderte. Sofort wirbelte er herum, um Stenmark zu wahrschauen. Aber das war mittlerweile nicht mehr notwendig.
Von der Back her brüllte der blonde Schwede lauthals: „Ankertrosse gebrochen!“
Stenmark hatte bemerkt, daß die Trosse des Backbord-Bugankers lose im Wasser hing. Und nun konnte er sich auch den Ruck erklären, den sie vor wenigen Augenblicken wahrgenommen hatten.
Jetzt wurde es brenzlig, darüber waren sich die Ankerwachen im klaren. Es mußte sofort etwas geschehen, denn die „Isabella“ ging auf Wanderschaft.
Smoky, der sich noch auf dem Achterdeck aufhielt, reagierte schnell. Geistesgegenwärtig legte er das Ruder hart Backbord, so daß das Heck der achteraustreibenden Galeone zum Land, der Bug aber zur See schwenkte. Wenn der Wind und der Strom den Bug noch weiter herumdrückten, bis er nordwärts wies, dann würde sich die „Isabella“ wesentlich besser steuern lassen, als wenn sie über das Heck trieb. Das wiederum wäre sehr gefährlich, denn Smoky wußte aus der Seekarte, daß hinter ihnen die Küste in leichtem Bogen nach Westen schwang und die in die See ragende Landspitze von Kullen bildete.
Das Gebrüll der beiden Ankerwachen riß auch die übrigen Männer aus dem Schlaf.
Der Seewolf war der erste, der auf dem Achterdeck erschien, aber auch die anderen ließen nicht lange auf sich warten. Die Männer begriffen rasch, was geschehen war und bereits fünf Minuten später hatten sie den Steuerbord-Buganker geworfen.
Wer jetzt noch einen winzigen Rest von Müdigkeit in seinen Knochen verspürte, wurde spätestens durch den lauten Wutschrei Edwin Carberrys hellwach.
„Donner und Wolkenbruch!“ brüllte er. Dabei stand er wie ein griechischer Athlet mit drohend erhobenen Fäusten auf der Back. „Wenn ich das Rübenschwein in die Finger kriege, das dafür verantwortlich ist, zerstampfe ich es zu Pulver! Danach renke ich ihm den Hals aus und zerbreche ihm jeden Knochen einzeln. Und die Haut werde ich ihm eigenhändig in Streifen von seinem blaukarierten …“
„Moment, Ed!“ unterbrach ihn Hasard, der auf die Back geeilt war. „Ganz davon abgesehen, daß du dich im Hinblick auf deine Strafmaßnahmen in der Reihenfolge vertan hast, solltest du zunächst mal vermelden, was dieses bedauernswerte Rübenschwein deiner Meinung nach angestellt hat.“
Der Profos knurrte wie ein gereizter Löwe und deutete mit ausgestrecktem Arm in Richtung Ankertrosse.
„Ich verwette meinen Kopf, Sir“, rief er mit Donnerstimme, „daß diese Trosse gekappt worden ist!“
Im Schein einer Laterne besah sich Hasard den Rest der Backbord-Ankertrosse.
„Du hast recht, Ed“, stellte er fest. „Die Kardeele sind einwandfrei durchgetrennt worden, daran gibt es keinen Zweifel. Wir müssen in dieser Nacht ein zweites Mal Besuch gehabt haben.“
„Verdammter Mist!“ schimpfte Old O’Flynn, der ebenfalls zur Back aufgeentert war. Während er sich mit einer Hand auf seine Krücke stützte, fuhr er sich mit der anderen über das stoppelbärtige Gesicht. „Der Anker ist natürlich ebenfalls futsch. Da soll doch gleich der Teufel die Kerle holen, die das getan haben! Ob da nicht doch diese habgierigen Zolleintreiber die Hände im Spiel hatten, he?“
„Das ist unwahrscheinlich“, meinte Hasard. „Der Anschlag auf unsere Ankertrosse kann ja erst vor kurzer Zeit erfolgt sein, während die Schaluppe seit Stunden verschwunden ist. Ich denke, wir sollten im Hinblick auf die Zöllner, die ja auch nur ihre Pflicht erfüllen, nicht zu mißtrauisch sein. Es muß da noch jemanden geben, der ein lebhaftes Interesse an uns hat.“
Old Donegals verwittertes Gesicht wirkte düster.
„Und wenn wir den erwischen, kann Ed mit meiner vollen Unterstützung rechnen. Solchem Gesindel sollte man wirklich die Haut in Streifen von den karierten Affenärschen ziehen! Wenn Ed die Längsstreifen übernimmt, kümmere ich mich um die Querstreifen. Von denen wird keiner mehr eine Hand an unsere Lady legen!“
Auch der Seewolf war verärgert über den heimtückischen Anschlag. Aber er war sich auch darüber im klaren, daß Zorn jetzt wenig nutzte. Deshalb versuchte er sofort, dem Geschehen auf den Grund zu gehen.
Eine Befragung Stenmarks und Smokys brachte kein Ergebnis. Außer dem leichten Ruck, der durch das Schiff gegangen war, hatten sie nichts bemerkt. Und danach hatten sie alle Hände voll zu tun gehabt.
Old Donegal musterte die beiden Ankerwachen mit grimmigem Blick.
„Hättet ihr Kerle eure Klüsen nicht besser aufreißen können, he? Wenn irgendein hübscher Weiberrock an unserer Ankertrosse herumgeturnt wäre, das hättet ihr bestimmt bemerkt. Wenn aber irgendwelche Spitzbuben unsere Ankertrosse durchsäbeln, da schaut ihr wohl geflissentlich weg, wie?“
Stenmark reagierte fuchtig.
„Jetzt halt aber die Luft an, Mister O’Flynn!“ fauchte er und trat einen Schritt näher an Old Donegal heran. Dann aber schien er sich blitzschnell auf eine andere Taktik zu besinnen. „Hör zu, Donegal“, fuhr er mit gedämpfter Stimme fort. „Soll ich dir mal ganz im Vertrauen erzählen, was wirklich vorgefallen ist?“
„Ich bestehe darauf“, erwiderte der Alte würdevoll.
„Nun gut“, sagte Stenmark. „Dann sperr deine Lauscher auf. Es war nämlich ein Wassermann gewesen!“
„Ein Wa-Wassermann?“ Old Donegal blieb das Wort beinahe im Halse stekken.
„Jawohl, ein Wassermann“, sagte Stenmark unbeirrt. „Es war sogar ein Prachtexemplar, denn er hatte überall grüne Schuppen, und seine großen, runden Augen glühten wie zwei Laternen. Ich hörte plötzlich ein Geräusch und ging der Sache nach. Und was sah ich da? Der Wassermann hangelte sich gerade an unserer Ankertrosse nach oben! Ich riß sofort mein Messer heraus und kappte die Trosse, so daß der grüngeschuppte Kerl mit einem lauten Fluch ins Wasser zurückfiel. Den Rest der Geschichte kennst du ja.“
Der alte O’Flynn, der zwar ein rechter Haudegen, aber auch sehr abergläubisch war, hatte Stenmark nicht unterbrochen. Seine Augen hingen gebannt an den Lippen des blonden Schweden, bis ihn das Gelächter der anderen in die Wirklichkeit zurückholte.
„Du triefäugige Seegurke!“ schimpfte er da lauthals. „Du willst mir wohl einen Bären aufbinden, was? Laß dich bloß nicht mehr in meiner Nähe blicken, sonst ziehe ich dir mit meiner Krücke einen Scheitel durch deine blonden Locken!“
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