Batuti hatte kein Verlangen danach, den Tod der Männer mitzuerleben. Er war ein Naturkind, dem Leben, Sterben und auch Töten nichts Neues war, aber diese Art von Sterben hatte er erst bei den Weißen kennengelernt, und sie war ihm immer widerwärtig geblieben, ganz gleich, ob die Leidtragenden den Tod verdient hatten oder nicht. Es war entwürdigend für einen Menschen, auf diese Weise zu sterben.
Er hörte das Schreien, das ihm in den Ohren weh tat. Dann war es für einen Augenblick still, bis die Piraten in der Kuhl begeistert zu brüllen begannen. Batuti sah ein paar nackte Füße hin und her schwingen, als er einen kurzen Blick nach oben warf.
Er hoffte, daß Le Requin befehlen würde, die Erhängten sofort abzunehmen und sie nicht, wie es bei den Piraten oftmals üblich war, noch ein paar Stunden oder sogar Tage hängen zu lassen.
Nach ein paar Minuten war alles vorbei. Der Schotte scheuchte die Männer wieder an die Arbeit. Großstenge und Großbramstenge waren fertig und brauchten nur noch montiert zu werden.
Batuti mischte sich unter die Männer, die die Großstenge aufrichteten. Er sah, wie zwei Männer das Gangspill bedienten und die Großrah abfierten, an dem die Hingerichteten hingen. Die Toten wurden abgenommen und in ein Boot verfrachtet, das an der Backbordseite der Karacke lag.
Dann pullten vier Männer ans Ufer und schleppten die Leichname ihrer ehemaligen Kumpane an Land. Wahrscheinlich hatten die Männer den Befehl, die Toten zu begraben.
Le Requin rief den Schotten zu sich aufs Quarterdeck. Batuti wunderte sich ein wenig, denn der Profos war im Moment der wichtigste Mann auf der Kuhl.
Der Gambia-Neger kriegte große Augen, als der Schotte auf ihn zutrat und sagte: „Du vertrittst mich, bis ich wieder zurück bin. Wenn einer die Schnauze aufreißt, hau ihm eins drauf. Ich will, daß bis zum Mittag alles erledigt ist und wir auslaufen können.“
„Aye, aye!“ sagte Batuti. Er blieb wie erstarrt stehen, bis der Schotte die Stufen zum Quarterdeck hinaufgegangen und unter der Poop verschwunden war.
Das meckernde Lachen eines Piraten brachte ihn wieder zur Besinnung.
Er drehte sich um und blickte den krummbeinigen kleinen Mann an, der ihm grinsend entgegenblickte.
„Du was auf Schnauze?“ fragte Batuti mit rollenden Augen und hob seine mächtige Faust.
Der Pirat wandte grinsend den Kopf zu seinen Kumpanen, aber als er sah, daß er von ihnen keine Hilfe zu erwarten hatte, preßte er die Lippen aufeinander und zog den Kopf zwischen die Schultern.
Matt Davies, Stenmark und Blacky grinsten sich an. Sie hatten es schon weit gebracht bei den Piraten. Erst wurde der Kutscher zum Aufklarer des Kapitäns befördert, und jetzt war einer von ihnen der Vertreter des Profos. Daß der Schotte Batuti die Aufgabe übertragen hatte, hing wohl damit zusammen, daß der Neger ihm schon ein paarmal während der beiden letzten Tage das Leben gerettet hatte.
Matt nahm sich vor, Batuti bei seiner Aufgabe den Rücken freizuhalten. Er wußte, wie schwer es ein Mann hatte, der erst kurz auf einem Schiff war, sich gegen die alte Besatzung durchzusetzen, aber nachdem Matt sah, wie Batuti die Piraten scheuchte und mit klaren Anweisungen an den richtigen Stellen einsetzte, pfiff er leise durch die Zähne. Wieder einmal bewahrheitete sich der alte Spruch, daß ein Mann mit seinen Aufgaben wuchs.
„He, Matt, nix träumen!“ brüllte Batuti. „Du gehen mit Stenmark und Blakky auf Saling und kümmern dich um Untereselshaupt!“
„Aye, aye, Profos!“ erwiderte Matt zackig und enterte blitzschnell die Großwanten.
„Wenn der so weitermacht, ist er bald Kapitän“, murmelte Blacky, der hinter Matt auf die Saling kletterte.
„Laß ihn das nicht hören“, sagte Stenmark grinsend, als er neben den beiden anderen stand, „sonst du kriegen was auf Schnauze.“
Sie grinsten sich an, doch dann blieb ihnen keine Zeit mehr, sich über Batutis Energie zu wundern. Sie wuchteten mit den anderen Piraten die Großstenge in die Mastbakken und waren in Schweiß gebadet, als sie endlich das Untereselshaupt, das die Großstenge hielt, auf den Großmast gebolzt hatten.
Der Kutscher hatte sich nicht schlecht gewundert, daß Le Requin an diesem Morgen mit dem Bootsmann Nicolas Colter und dem Schotten eine Besprechung abhielt. Anscheinend hatte der Kapitän der „L’Exécuteur“ nicht vor, sich an das zu halten, was er mit den anderen Piratenkapitänen vereinbart hatte.
Er hatte damit gerechnet, daß Le Requin ihn hinausschicken würde, wenn die Besprechung begann, aber der Riese schien sich zu denken, daß ja sowieso niemand an Bord der „L’Exécuteur“ eine Möglichkeit haben würde, irgend etwas an irgend jemanden zu verraten.
„Wir haben noch zwei Wochen Zeit, um bei den Abrojos aufzukreuzen“, sagte er zu Nicolas Colter und dem Schotten. „Ich bin mir darüber im klaren, daß wir nach dem Angriff auf die Silberschiffe der Dons nicht mehr nach Port Caché zurückkehren können, weil die Spanier unsere Siedlung sofort angreifen werden, nachdem sie wissen, daß die Informationen des Comte falsch gewesen waren.“
„Du meinst, der Comte hatte sie schon benachrichtigt?“ fragte der Schotte. „Aber niemand hatte die Siedlung verlassen, bevor wir ausgelaufen sind.“
„Das war immer so“, erwiderte Le Requin, „dennoch wußten die Spanier Bescheid. Der Comte muß einen Mittelsmann in Port Caché haben, der die Spanier benachrichtigt, wenn wir ausgelaufen sind.“
„Wir alle haben noch eine Menge Sachen in Port Caché, an denen wir hängen“, murmelte Nicolas Colter. „Und was wird aus unseren Weibern?“
Le Requin nickte.
„Das ist der Grund, warum ich euch hergerufen habe“, sagte er. „Wir segeln nicht von hier aus zu den Turks-Inseln, sondern nach Port Caché.“
Einen Augenblick blieb es still, dann sprangen Nicolas Colter und der Schotte mit strahlenden Gesichtern auf.
„Wenn ich den Männern das erzähle, stehen sie wie ein Mann hinter dir, Le Requin“, sagte der Schotte. „Sie haben schon geglaubt, sie müßten alles aufgeben, was sie in Port Caché zurückgelassen haben.“
Der Kutscher schenkte den dreien die Gläser mit Wein voll, damit sie sich zuprosten konnten, dann verließ er mit der leeren Karaffe die Kapitänskammer. Keiner der drei nahm von ihm Notiz.
Die Gedanken des Kutschers jagten sich. Was war, wenn die „Isabella“ erst Stunden oder sogar Tage später hier eintraf, um sie wieder an Bord zu nehmen? Ihnen würde keine andere Wahl bleiben, als sich auf eigene Faust bis zur Schlangen-Insel durchzuschlagen. Aber das war leichter gesagt als getan. Mit fünf Mann und den Zwillingen konnten sie sich schlecht eine Galeone oder auch ein kleineres Schiff unter den Nagel reißen.
Der Kutscher huschte in seine Kammer, die gleichzeitig als Kombüse diente, und entwickelte eine fieberhafte Tätigkeit. Er wollte ein Zeichen für die zurückkehrende „Isabella“ hinterlassen. Vielleicht würde der Seewolf es finden. Dann wußte er wenigstens, daß seine Zwillinge und die fünf Männer noch am Leben waren.
Mit einem Stück Holzkohle malte der Kutscher seine Zeichen und Buchstaben auf ein Stück Leinen. Er wußte nur, daß Port Caché, die Siedlung der Piraten, im Süden Espanolas lag, aber für den Seewolf war erst einmal die Richtung wichtig, die das Piratenschiff nahm. Dann schrieb er noch auf, was die Piraten südlich der Turks-Inseln bei den Abrojos – oder dem Mouchoir carré, wie die Flibustier die Untiefen nannten – planten. Der Kutscher hoffte, daß sie am Angriff auf die Silberflotte nicht mehr teilzunehmen brauchten, denn nach seiner Ansicht war es aussichtslos. Er wußte, daß die Flotte von schwer bestückten Kriegsgaleonen eskortiert wurde, die die kleinen Piratenschiffe auf den Grund des Meeres bohren würden.
Der Kutscher rollte das Stück Leinen zusammen und verbarg es unter seinem Hemd. Die Frage war jetzt, wo er es deponieren konnte. Er mußte noch einmal an Land. Aber wie?
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