Carlos erreichte eine Anhöhe, der dichte Buschbewuchs öffnete sich vor ihm zu einer Art Rondell. Er sah Sarraux und Nazario – und er entdeckte auch Manon, die von ihnen mitgeschleift wurde, obwohl sie sich mit Händen und Füßen dagegen wehrte. Carlos blieb stehen und hob die Pistole.
„Stehenbleiben!“ rief er. „Nazario, du bist der erste, der stirbt! Ergebt euch! Was ihr tut, ist sinnlos!“
Die beiden hielten tatsächlich an. Aber Sarraux hielt Manon das Messer an die Kehle, und Nazario zielte mit der Muskete auf Carlos.
„Auf was wartest du?“ rief er. „Schieß doch! Wahrscheinlich hast du recht – ich verrecke! Aber auch du beißt ins Gras, verfluchter Hurensohn! Und das Weib verblutet hier am Boden, vor deinen Augen! Wie findest du das?“
„Das wagt ihr nicht“, sagte Carlos so ruhig wie möglich. „Ihr habt die ganze Insel gegen euch. Man wird euch finden und in Stücke zerreißen.“
„Wir haben nichts zu verlieren“, sagte Sarraux höhnisch. „Vergiß das nicht, Bastard. Und denk auch daran, daß ich Esther getötet habe, ohne mit der Wimper zu zucken.“
„Warum wollt ihr eure Lage durch einen weiteren Mord erschweren?“ fragte Carlos. Er hoffte, daß Willem alles mithörte und schleunigst Verstärkung holte. Aber Willem war nicht schnell genug. Bis er die „Schildkröte“ erreichte, war bereits alles vorbei.
„Manon wird leben, wenn du vernünftig bist“, sagte Nazario. „Wir nehmen sie mit. Als Faustpfand. Später lassen wir sie frei. Verlaß dich darauf, Rivero. Wir fordern freies Geleit, sonst nichts.“
„Ich habe keine andere Wahl.“ Carlos ließ die Pistole sinken. Dies war die Probe aufs Exempel. Wenn Nazario schoß, bewies er, daß er grundlos und ohne jeden Skrupel tötete. Dann würde auch Manon sterben. Schoß er nicht, hatte sie noch eine Chance.
Nazario nahm die Muskete herunter. Er grinste flüchtig, dann entfernten sich Sarraux und er rückwärts mit Manon. Noch einmal versuchte sie, sich loszureißen, aber sie konnte sich dem Griff der Kerle nicht entwinden.
Carlos Rivero mußte in ohnmächtiger Hilflosigkeit mit ansehen, wie sie mit dem Mädchen verschwanden. Willem Tomdijk traf viel zu spät mit der Verstärkung ein, aber es hätte wenig genutzt, wenn er schneller gewesen wäre. Nazario und Sarraux hatten Manon in ihrer Gewalt. Ihr Leben durfte nicht aufs Spiel gesetzt werden.
Die Männer von Tortuga fanden den grauhaarigen Engländer und den Spanier. Der Engländer war schlimmer verletzt, als sie anfangs angenommen hatten. Er mußte sich beim Wundarzt in Behandlung begeben. Konnte man ihm Vorwürfe machen? Kaum. Aber Willem Tomdijk, Carlos Rivero, Diego und die anderen wußten jetzt nicht, was sie Arne von Manteuffel erzählen sollten, wenn dieser wieder auf Tortuga eintraf.
Sarraux und Nazario hatten unterdessen in einer verborgenen Nebenbucht einen Einmaster gefunden und lösten die Leinen. Niemand behelligte sie. Ungestört konnten sie die Segel setzen. Dann nahmen sie Kurs auf Punta Gorda.
Manon lag zu ihren Füßen. Sie hatten sie gefesselt, damit sie nicht über Bord sprang und zurück zur Insel schwamm. Es war damit zu rechnen, daß sie in ihrer grenzenlosen Wut auch vor den Haien keine Angst hatte.
Ungefähr zum gleichen Zeitpunkt landeten El Tiburon, Rosario, Fango, O’Toole und die sieben anderen Insassen der Pinasse nordwestlich von Punta Gorda in einer versteckten Bucht.
„Ein feiner Platz“, sagte Rosario. „Hier wird unseren Kahn keiner entdecken. Also los, lassen wir einen Mann zur Bewachung zurück und brechen wir auf nach Punta Gorda.“
„Nein“, sagte El Tiburon. „Ich gehe allein, Rosario. Ihr wartet hier auf mich. Nein, widersprich mir nicht. Ich will erst einmal die Lage sondieren.“
„So habe ich mir das aber nicht vorgestellt“, sagte Rosario.
O’Toole grinste. „Ich auch nicht. Ich hatte mich schon gefreut, mal den Busen der Black Queen ein bißchen anzufassen.“
„Und in Punta Gorda soll es auch einen guten Wein geben“, meinte Fango. Sein häßliches Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt. „Nur der Wirt ist ein Schmierfink. Er heißt Manoleto.“
„Versucht nicht, mich zu beeinflussen“, sagte El Tiburon. „Ich brauche euch vor allem als Segelmannschaft.“
„So? Und ich dachte, wir seien Freunde“, sagte Rosario. „Wir gehen gemeinsam durch dick und dünn.“
„Gut, aber dann sind wir auch für deine Kameraden verantwortlich“, sagte El Tiburon. „Mit meinem Fischerkahn wäre ich nicht weit gelangt, ich habe die Pinasse also dringend gebraucht. Ich bin euch für eure Unterstützung dankbar. Aber denk mal einen Augenblick weiter, Rosario. Ich wäre ein Schweinehund, wenn ich euch leichtfertig einer Gefahr aussetzen würde.“
„Du spielst also wieder den einsamen Rächer?“
„Ja, Rosario, so ungefähr. Nur im äußersten Notfall dürft ihr in Punta Gorda auftauchen.“
„Das ist ein merkwürdiges Abkommen“, meinte Rosario. „Aber ich will dir die Sache nicht durch Kritik erschweren. Wenn du in zwölf Stunden nicht zurück bist und uns Bericht erstattest, sehen wir nach dem Rechten. Einverstanden?“
„Einverstanden.“ El Tiburon grinste hart. Sie gaben sich die Hand, dann sprang er an Land und verschwand im Dickicht.
Die Entfernung nach Punta Gorda betrug etwa drei Meilen, aber der Weg durch den Busch war nicht so beschwerlich wie an der Manzanillo-Bucht, wo das Gestrüpp und die Bäume sehr viel dichter zusammengewachsen waren. El Tiburon gelangte zügig voran und wußte, daß er Punta Gorda noch am frühen Nachmittag erreichen würde.
Männer wie Rosario und er brauchten keine Karten, um sich auf Hispaniola und dem Seegebiet um die Insel zurückzufinden. El Tiburon hatte die Gegend genau im Kopf, kannte die Entfernungen und wußte über jede Einzelheit Bescheid. Lange genug hatte er die Insel ausgekundschaftet. Er konnte sich auch noch gut an Punta Gorda erinnern, obwohl er seit knapp zwei Jahren nicht mehr dort gewesen war.
Zum erstenmal würde er nun der Black Queen gegenübertreten. Innerlich bereitete sich Joaquin auf alles vor. Er hatte sich zurechtgelegt, was er sagen würde und war auf jede Frage gefaßt. Er war ziemlich sicher, daß er sich nicht versprechen und verraten würde. Aber er mußte höllisch aufpassen. Wenn die Queen so gefährlich war, wie sie ihm beschrieben worden war, würde es nicht leicht sein, sie hinters Licht zu führen.
Genau das aber hatte El Tiburon vor. Würde es ihm gelingen oder hatte er sich zuviel vorgenommen? Der Seewolf hatte es schwer gehabt, den Verband der Queen zu zerschlagen. Schon viele Männer hatten sich an dieser Frau die Zähne ausgebissen.
Aber er, El Tiburon, konnte nicht nur gegen Haie kämpfen. Er hatte allein dem Busch getrotzt und die Selva und ihre Tücken besiegt. Er hatte viele Gefechte miterlebt und wußte sich unter Raubtieren zu bewegen, vierbeinigen und zweibeinigen. Was er sich in den Kopf setzte, das schaffte er in den meisten Fällen auch. Sein ganzer Stolz würde es sein, dem Seewolf zu begegnen und ihm von seinem Sieg über die Queen zu berichten.
Aber soweit war er noch nicht. Sein Fußmarsch erfuhr eine kurze Unterbrechung, als er auf eine Bucht unweit von Punta Gorda stieß, in der ein Schiff vor Anker lag. Vorsichtig schlich er sich an, so weit, daß er es aus einem Versteck im Dickicht beobachten konnte.
Unwillkürlich hielt er den Atem an. Kein Zweifel, nach den Beschreibungen, die er auf Tortuga vernommen hatte, handelte es sich um den Zweidecker der Black Queen. Oder irrte er sich? Der Name „Caribian Queen“ war nirgends zu erkennen, weder am Bug noch am Heck. Niemand war an Bord zu sehen. Er spähte durch seinen Kieker, entdeckte aber auch jetzt niemanden. Totenstille herrschte. Kein Boot lag am Ufer. Wenn die Mannschaft an Land gegangen war, dann hatte sie ihr Beiboot gut versteckt und entsprechend getarnt.
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