Die Siedler um Willem Tomdijk hatten sich allesamt in den Grotten der Kneipe „Zur Schildkröte“ versammelt. Sie hatten beschlossen, sich aus allem herauszuhalten.
Jerry Reeves war mehr als zufrieden, dies zu hören. Der Unsicherheitsfaktor, der dem Seewolf am meisten Kopfzerbrechen bereitet hatte, war damit aus der Welt geräumt. Es bedeutete kein Problem mehr, die Unbeteiligten aus den Kampfhandlungen herauszuhalten.
Die Leute aus El Triunfo waren in der „Schildkröte“ in Sicherheit. Und die Pariserinnen waren von der Black Queen selbst in Sicherheit gebracht worden, ohne daß die Schwarze dies vermutlich jemals beabsichtigt hatte.
„Sehr gut“, sagte Jerry, als der andere seine heruntergehaspelte Schilderung beendete. „Wenn du auf unserer Seite stehst, kannst du uns jetzt noch einen Gefallen tun. Kennst du dich auf Tortuga schon einigermaßen aus?“
„Ich habe mir alle Plätze angesehen, wo man vielleicht eine zweite Kneipe einrichten könnte.“
„Wir brauchen mindestens zwei Einmaster“, sagte Jerry, „und zwar so, daß niemand etwas davon mitkriegt.“
Die Augen Emile Boussacs leuchteten verstehend in der Dunkelheit. Mit einem erneuten Wortschwall versicherte er nach kurzem Nachdenken, daß er genau die richtige Stelle wüßte.
In der Tat erwies sich die Behauptung des Franzosen als nicht übertrieben. Auf Schleichwegen führte er die Männer von der „Tortuga“ zu einer abseits gelegenen kleinen Bucht. Mehrere Einmaster lagen dort vertäut. Die Eigentümer hatten sich ohnehin aus den nahen Hütten zurückgezogen und im Inneren der Insel verkrochen.
Jerry Reeves entschied sich für zwei Pinassen, auf die er seine Männer verteilte. Boussac entließ er, nachdem er ihm das Versprechen abgenommen hatte, kein Wort über die nächtliche Begegnung zu verlieren. Minuten später wurden die Leinen der beiden Einmaster gelöst und die Segel gesetzt. Außerhalb der Bucht gingen sie sofort auf Nordkurs.
Rings um die Hafenbucht von Tortuga war es still geworden. Auch hier hatten sich die Bewohner der Hütten zurückgezogen. Sie waren aus Erfahrung klug geworden. Oft genug war in der letzten Zeit die wahre Hölle losgebrochen. Wer auch immer sich in der Bucht oder vor der Bucht Gefechte lieferte – man konnte nie wissen, ob nicht einmal eine volle Breitseite versehentlich an Land einschlug.
Emile Boussac empfand leises Unbehagen, als er sich durch die unbefestigten Gassen der Bucht näherte. Die Leute waren vernünftiger als er. Die meisten von ihnen hockten wahrscheinlich zusammen mit Willem Tomdijk und seiner Anhängerschar bei Diego in der „Schildkröte“. Oder sie hatten sich andere beschauliche Plätze in einem sicheren Gebiet der Insel ausgesucht.
Emile sagte sich, daß er ein verdammter Narr war, jetzt noch zur Bucht zu gehen. Aber da war eine seltsame Art von Jagdfieber, das ihn gepackt hatte. Die Jagd nach Informationen konnte unter Umständen wichtiger sein als ein Gefecht auf See. Das begriff er jetzt, nachdem er den Freunden Jean Ribaults sein Wissen preisgegeben hatte.
Wußte er denn, ob nicht vielleicht ein zweites geheimes Landeunternehmen stattfand? Vielleicht konnte er noch einmal mit wichtigen Nachrichten zu Diensten sein. Möglich auch, daß sich so etwas auszahlte, wenn nicht in klingender Münze, dann doch auf die eine oder andere lohnende Weise.
Emile Boussac, der kleine Schankwirt aus El Triunfo, empfand plötzlichen Stolz darüber, wie bedeutend seine Person geworden war – und noch werden konnte. Nur durch die Weitergabe seines Wissens trug er vielleicht entscheidend zur Entwicklung des Geschehens auf Tortuga bei.
Verblüfft verharrte er, als er den Strand erreichte.
Alle drei Schiffe lagen noch in der Bucht – die „Caribian Queen“ die „Aguila“ und die „Vascongadas“. Das Laternenlicht enthüllte hektisches Treiben auf den Decks. Kisten und Fässer wurden aus längsseits liegenden Schaluppen und Pinassen an Bord gehievt. Zweifellos handelte es sich um Munitionsvorräte, die in die Pulverkammern verfrachtet wurden.
Die Black Queen mußte also einen Schiffsausrüster aufgetrieben haben, der sich bereit erklärt hatte, sie zu beliefern. Auf Tortuga, soviel hatte Emile Boussac mittlerweile begriffen, war das Unmögliche möglich. Hier gab es die denkwürdigsten und unvermutetsten Vorratsquellen. Man mußte nur dem richtigen Mann den richtigen Preis zahlen, dann gab es nichts, was man nicht erhalten konnte.
In seinem Hinterkopf notierte Emile Boussac die Tatsache, daß sich die Black Queen mit zusätzlicher Munition versorgt hatte, eine wichtige Erkenntnis, die vielleicht für die gegnerische Seite noch von Bedeutung war.
Er ging ein paar Schritte weiter und stutzte, als er eine kleine Jolle an einem der Stege liegen sah. Solche Beiboote wurden nur an Bord der großen Galeonen mitgeführt. Es handelte sich also nicht um ein Boot, das irgend jemandem gehörte, der hier zu Hause war.
Emile fand keine Zeit mehr, weiter über seine Beobachtung nachzudenken.
Das Geräusch, das er plötzlich hinter sich hörte, war nicht mehr als ein Huschen. Schreck durchzuckte ihn. Er kreiselte herum und streckte abwehrend die Arme aus. Zu spät.
Die Silhouette, die ihn ansprang, war schneller. Emile fühlte sich jäh in einem eisenharten Griff. Die Arme wurden ihm auf den Rücken gerissen, und erst jetzt sah er aus den Augenwinkeln heraus, daß es Caligula war, der ihn mit brutaler Gewalt festhielt.
Aus dem Dunkel trat die Black Queen. Das Weiße ihrer Augen leuchtete. Ein spöttischer Glanz schien darin zu liegen.
„Was hast du hier zu suchen, du lausiger Hurenbändiger?“ fauchte sie ihn an.
„Ich? Nichts, gar nichts“, stammelte Emile. „Hab mir nur ein bißchen die Beine vertreten.“
„Du lügst.“
„Natürlich lügt er“, fügte Caligula mit glucksendem Lachen hinzu. „Bestimmt sucht er Verbündete, mit denen er seine hübschen Püppchen befreien kann. Er denkt wohl, daß die Gelegenheit günstig ist, wenn wir was anderes zu tun haben.“
„Himmel, nein“, beteuerte Emile, „so ist es nicht, wirklich nicht.“
„Nein? Wie ist es denn?“ entgegnete die Black Queen, und der Spott lag jetzt unüberhörbar in ihrer Stimme.
Emile Boussac brachte seine Gedanken in rasender Schnelligkeit in geordnete Bahnen. Wenn er keine plausible Antwort fand, brachte sie es fertig, ihn zu foltern oder gar Schlimmeres mit ihm anzustellen. Jäh erwachte seine Händlerseele. Aber ja, schrie es in ihm, tu es!
Wenn er der einen Seite von Nutzen war, konnte er es der anderen ebenso sein. Aber es mußte sich natürlich lohnen. Umsonst würde er mit seinem Wissen nicht herausrücken, diesmal nicht.
„Du mußt ja lange darüber nachdenken“, knurrte Caligula in sein Ohr. „Soll ich dir mal auf die Füße treten?“
„Nein, nein“, sagte Emile hastig. „Ich weiß nur nicht, wie ich es erklären soll.“
„Spuck’s einfach aus“, forderte die Black Queen barsch, „dann ersparst du dir unnötige Schwierigkeiten.“
„Es handelt sich“, Emile ächzte, denn der hünenhafte Neger lockerte seinen schmerzhaften Griff um keinen Deut, „um Beobachtungen, die – hm, sagen wir – strategisch wichtig sein könnten. Was ist es dir wert, Madam, wenn ich ein bißchen darüber berichte?“
Die Black Queen wurde hellhörig. Es fiel nicht schwer, zwei und zwei zusammenzuzählen: Geschützdonner vor der Nordküste, Boussac schlich in der Gegend herum. Irgend etwas mußte sich abgespielt haben.
„Du weißt also etwas“, sagte sie gedehnt und tat, als dächte sie angestrengt nach. Dann gab sie sich einen gespielten Ruck. „Also gut: Ich werde deine Mädchen auf der Stelle freilassen, wenn du mit mir zusammenarbeitest. Vorausgesetzt, deine Neuigkeiten sind wirklich von Bedeutung.“
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