Die „Isabella“ lag mit dem Vorschiff nach Norden und mit dem Heck nach Süden in der Bucht. Ihre Backbordseite war also dem Ufer der Bucht zugewandt, die Steuerbordseite hingegen der Ausfahrt.
Old O’Flynn hatte am Backbordschanzkleid des Achterdecks gestanden und Ausschau nach Jeff Bowie und Bob Grey gehalten, die seiner Schätzung nach bald mit Meldungen zurückkehren mußten. Sie waren mit der zweiten Jolle an Land gepullt, und das Boot lag jetzt neben dem ersten, das von Hasard und dessen Trupp benutzt worden war.
Auf Bills Ruf hin wandte sich der Alte ruckartig um, überquerte das Achterdeck und spähte über das Steuerbordschanzkleid zur Öffnung der Bucht. Mit bloßem Auge waren die Kanus und Piraguas zu erkennen, die sich aus Südosten näherten. Augenscheinlich hielten sie auf die Einfahrt der Bucht zu, eine Tatsache, die Old O’Flynn alarmierte.
„Pete, Gary, Matt, Al, Sam, Stenmark und ihr anderen Tränentiere mal herhören!“ rief er. „Alle Mann auf Gefechtsstation und ’raus mit den Kanonen! Wenn die Kerle es wagen, in die Bucht einzudringen, lichten wir vorsichtshalber den Anker, um manövrierfähig zu sein!“
„Donegal“, sagte Pete Ballie, der Rudergänger, vom Quarterdeck her. „Glaubst du wirklich, daß die sich mit uns anlegen wollen?“
„Was ich glaube, spielt im Moment keine Rolle“, erwiderte der Alte schroff. Er hatte sein Spektiv zur Hand genommen, zog es auseinander und blickte hindurch. Was er sah, löste alles andere als Begeisterung bei ihm aus: Die Mienen der Indios in den Booten waren grimmig, ja, geradezu bösartig. Haßerfüllt sahen sie zur „Isabella“.
„Die blicken so wild drein, als wollten sie uns fressen!“ rief Bill hoch über den Köpfen der Männer. „Haben wir denen etwas getan?“
„Blödsinn“, sagte Old O’Flynn. „Aber einige von ihnen haben blaue und rote Flecken im Gesicht und auf dem Leib. Was das zu bedeuten hat, können wir uns ja wohl an unseren zehn Fingern abzählen.“
Al Conroy enterte das Achterdeck, um die beiden hinteren Drehbassen auf Ladung und Feuerbereitschaft zu prüfen, und meinte: „Na, dann hätten wir wohl die Erklärung dafür, warum Hasard und die anderen geschossen haben. Und so friedlich, wie sie dir erschien, Donegal, ist diese Insel wohl doch nicht.“
Der Alte murmelte nur etwas Unverständliches vor sich hin und fuhr fort, die Eingeborenen durch sein Fernrohr zu beobachten.
Anfangs schien es so, als wollten sie tatsächlich in die Bucht paddeln. Sie konnten sich ausmalen, daß das große Segelschiff mit den hohen Masten jenen Männern gehörte, mit denen sie am Strand des Südufers eine harte Auseinandersetzung gehabt hatten. Borago hatte Rache geschworen, und in diesem Augenblick überlegte er sich wirklich, ob er das Schiff nicht angreifen und zu kapern versuchen sollte.
Doch seine Kumpane rieten ihm davon ab. Sie konnten die Stückpforten der „Isabella“ sehen, die sich jetzt geöffnet hatten, und ebenso deutlich waren die Geschützmündungen zu erkennen, die sich ihnen drohend entgegenreckten. Die Indios hatten keinen Zweifel daran, daß es sich bei diesen eisernen Giganten um Feuerrohre handelte, und sie glaubten ihrem Führer Borago nicht, daß die Flammen und Rauch spuckenden Ungetüme verhältnismäßig ungefährlich wären.
So zogen die Kanus und Piraguas an der Buchteinfahrt vorbei und verschwanden hinter einer Landzunge.
Old O’Flynn wagte es jedoch nicht, schon aufzuatmen. Er drehte sich um und blickte zu Al Conroy und Pete Ballie.
„Das kann auch ein Trick sein“, sagte er. „Vielleicht gehen sie irgendwo an Land und versuchen, sich anzuschleichen, um dann vom Ufer aus gegen uns vorzudringen.“
Pete setzte eine zweifelnde Miene auf. „Ich halte es nicht für möglich, daß die braunhäutigen Burschen uns angreifen. Sie müssen sich doch ausrechnen, daß sie dabei den kürzeren ziehen, allein schon aus dem Grund, weil wir Feuerwaffen haben und sie nicht.“
Old Donegal Daniel O’Flynn hob die rechte Hand. „Augenblick mal. Wenn wir schon vom Rechnen sprechen, dann wollen wir uns eins vor Augen halten. In jedem dieser kleinen Kähne saßen acht oder neun Eingeborene. Acht Boote waren es, das haben wir ja alle gesehen. Also, Pete, Ballie, mit wie vielen Kerlen hätten wir es dann im Fall eines Angriffs zu tun?“
„Mit mehr als fünf Dutzend!“
„Das ist mir zu ungenau“, sagte der Alte grantig. „Bist du wirklich so schlecht im Kopfrechnen, Mann, oder tust du nur so?“
„Vierundsechzig bis zweiundsiebzig Eingeborene“, sagte jetzt Al Conroy. „Vielleicht holen sie von irgendwoher noch Verstärkung. Wir können ihre Kanus versenken und über die Hälfte von ihnen töten, wenn sie die ‚Isabella‘ zu entern versuchen, aber dann sind sie immer noch in der Übermacht – was ihre Zahl betrifft.“
„Genau das meine ich“, brummte Old O’Flynn. „Und was die Schußwaffen betrifft, so scheinen sie ja nicht gerade großen Respekt davor zu haben. Obwohl Hasard und sein Trupp gefeuert haben, haben sich die Burschen trotzdem mit ihnen herumgeschlagen, das sieht man ihnen ja im wahrsten Sinne des Wortes an.“
„Na schön“, sagte Pete. „Wir dürfen sie also nicht unterschätzen, das sehe ich ein. Himmel, ob Hasard und die anderen etwa verletzt worden sind? Wo bleiben bloß Jeff und Bob?“
Old O’Flynn schickte einen Blick zum Ufer hinüber, aber Jeff Bowie und Bob Grey waren dort immer noch nicht aufgetaucht. Er ging bis zur Schmuckbalustrade, die den Querabschluß zum Hauptdeck hin bildete, stützte die Hände auf und rief: „Gary Andrews, du enterst in den Vormars auf und hältst mit Bill zusammen deine verdammten Augen auf, verstanden? Wir müssen von jetzt an höllisch auf der Hut sein!“
„Aye, aye, Sir“, sagte Gary. Er stand mit dem Kutscher an der Nagelbank vor dem Großmars, wandte sich jetzt aber sofort den Fockwanten zu und enterte darin auf.
Als er den Vormars erreichte, fand er darin Arwenack, den Schimpansen, vor, der gerade genüßlich an einer geöffneten Kokosnuß knabberte.
„Mach mal ein bißchen Platz, Kamerad“, sagte Gary. „Wir zwei werden uns von jetzt an Gesellschaft leisten.“
Er hatte kaum seinen Kieker auseinandergezogen, da ertönte aus dem Großmars wieder Bills Stimme. „Deck! Jeff und Bob treffen ein – und sie haben Blacky dabei!“
Auf Deck ruckten die Köpfe der Männer herum.
Bob Grey lief über den Strand und erreichte als erster die Boote. Jeff und Blacky stiegen gerade die Anhöhe hinunter, und Jeff rief: „Bob, warte auf uns, sonst mußt du noch mal wieder an Land zurückpullen!“
„Verflixt“, sagte der Kutscher. „Blacky hat einen Pfeil in der Schulter stekken.“
Old O’Flynn war jetzt am Backbordschanzkleid und schrie: „He, Bob, was ist los? Braucht ihr Hilfe da drüben? Stecken Hasard und die anderen in der Klemme? Sind noch mehr Männer verwundet?“
„Das nicht, Sir“, gab Bob zurück. „Aber ich soll dir schleunigst Meldung erstatten, was vorgefallen ist. Eine Horde Indios hat am Südufer der Insel unsere Leute angegriffen und …“
„Das wissen wir schon!“ rief der Alte. „Los, steigt in die Jolle und pullt her, damit wir Blacky verarzten können. Kutscher, he, Kutscher?“
„Sir?“
„Halte deine Mordinstrumente bereit, damit du Blacky den Pfeil aus der Schulter holen kannst.“
„Bin schon auf alles vorbereitet“, sagte der Kutscher und wies auf Philip junior und Hasard junior, die Söhne des Seewolfs, die ihm die Tasche mit seinen Feldschergeräten und den kleinen Koffer mit den Arzneien aus der Kombüse geholt hatten.
Bob Grey drehte sich mit verblüffter Miene zu Jeff und Blacky um, die jetzt bei ihm eintrafen.
„Wißt ihr was?“ sagte er. „Irgendwie muß Donegal doch so was wie hellseherische Fähigkeiten haben.“
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