Hasard wälzte sich immer noch mit Borago auf dem Boden. Rechtzeitig bemerkte er, daß der Indio jetzt doch das Hartholzmesser gezogen hatte und sofort nahm er Boragos Handgelenk mit beiden Fäusten in einen Klammergriff.
Schon einmal hatte Hasard Bekanntschaft mit solch einem Hartholzmesser geschlossen, und zwar auf höchst unliebsame Art. Der Vorfall lag zwar schon Jahre zurück, aber er konnte sich immer noch so gut daran erinnern, als wäre das vor einer Woche geschehen.
Mit einem Ruck drehte er Boragos Gelenk um. Der Indio gab nicht nach. Sein Gesicht war verzerrt, und der Seewolf glaubte, seine Zähne knirschen zu hören.
Hasard lockerte seinen Griff, um es sofort darauf noch einmal zu versuchen. Borago nahm an, er habe jetzt die Oberhand gewonnen. Sie lagen nebeneinander, und er versuchte, sich über den Seewolf zu bringen, den Arm ganz freizukriegen und mit der Klinge zuzustoßen.
Aber Hasard stoppte sein Vorhaben im Ansatz. Wieder packte er fest zu und bog das Handgelenk herum, und diesmal schmolz Boragos Widerstand. Mit einem Schmerzenslaut ließ er das Messer los. Hasard ließ ihm nicht die Chance, sich von der erlittenen Schlappe zu erholen und eine neue Attacke zu starten. Er nahm eine Hand von dem Arm des Mannes, ballte sie und hieb sie ihm gegen die Kinnlade. Er schlug noch einmal zu und sah mit grimmiger Genugtuung, wie die Gestalt des Indios erschlaffte und von ihm wegsackte.
Hasard sprang auf und eilte Ben zu Hilfe, der es gleich mit drei Gegnern zu tun hatte.
Carberry hatte einen der Indios so kräftig verhauen, daß dieser entsetzt die Flucht vor ihm ergriff. Jetzt packte sich der Profos einen drohend anmarschierenden gedrungenen Kerl, der ihm mit dem Messer zu Leibe rücken wollte. Erstaunlich schnell schlug er ihm die Waffe aus der Hand. Während der Eingeborene noch verwundert auf seine leeren Finger blickte, griff Carberry ihn bei den Schultern, stieß ihn vor sich her und beförderte ihn mit Schwung auf die Brandung zu. Erst kurz davor ließ er ihn wieder los. Der Indio taumelte – von seiner eigenen Körperbewegung vorangetrieben – ins Wasser, stolperte und fiel der Länge nach hin.
Borago erwachte aus seiner kurzen Bewußtlosigkeit, schlug die Augen auf und sah den Seewolf, Ben Brighton, Shane und Ferris Tucker ganz in seiner Nähe mit den Fäusten gegen die Indios kämpfen. Vorsichtig richtete er sich auf. Er entdeckte sein Messer auf dem Sand und wollte sich danach bücken. Sein Ziel war es, dem großen Schwarzhaarigen, den er am meisten von diesen acht Fremden haßte, die Klinge in den Rücken zu stoßen.
Doch eine Stimme hinter ihm sagte plötzlich: „Halt! Hebe nicht das Messer auf, Borago! Ich töte dich, wenn du auch nur einen Schritt tust!“
Betroffen wandte er den Kopf.
Hinter ihm stand Ilana. Sie hatte seinen Bogen aufgehoben und auch einen Pfeil gefunden, mit dem sie jetzt auf seinen Bauch zielte. Die Sehne hatte sie so stark gespannt, daß sie jeden Augenblick zu zerreißen schien. Es war erstaunlich, daß Ilana überhaupt die Kraft aufbrachte, den großen Bogen zu handhaben.
„Sag deinen Männern, sie sollen aufgeben und verschwinden!“ rief Ilana.
Borago wollte aufbegehren, doch es war etwas in Ilanas Augen, das ihn warnte und ihm verriet, daß sie tatsächlich den Pfeil loslassen würde, wenn er nicht sofort gehorchte. Er hatte in seiner momentanen Lage keine Chance gegen sie.
Er wandte sich dem Wasser zu und schritt darauf zu. Plötzlich hob er die Hand und schrie: „Fort! Wir verlassen die Insel! In die Kanus, in die Piraguas! Wir kehren zurück zu Surkut, unserem großen Führer. Aber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen!“
Sein Kommando galt: Die Indios ließen von den Männern der „Isabella“ ab und liefen ins flache Wasser. Sehr schnell hatten sie ihre Boote erreicht, kletterten hinein und griffen zu den Paddeln. Ein paar Nachzügler hasteten gestikulierend hinter ihnen her und schienen Angst zu haben, nicht mitgenommen zu werden.
Carberry und Shane wollten ihnen nachlaufen, doch der Seewolf hielt sie zurück.
„Laßt sie“, sagte er. „Es wäre nicht fair von uns, sie jetzt noch aufhalten zu wollen.“
„Sie haben Blacky angeschossen!“ stieß der Profos wutentbrannt aus. „Und überhaupt, warum hauen sie jetzt so plötzlich ab?“
Der Seewolf deutete auf das nackte Mädchen, das nur drei Schritte von ihm entfernt stand und immer noch mit Pfeil und Bogen auf Borago zielte.
„Ich glaube, sie hat es diesem muskelbepackten Kerl befohlen“, sagte er. „Und wenn er nicht gehorcht hätte, hätte sie ihn bestimmt getötet, ohne mit der Wimper zu zucken.“
Carberry stand plötzlich da wie vom Donner gerührt. Erst jetzt wurde ihm richtig bewußt, daß das Mädchen splitterfasernackt war – eine echte Schönheit der Natur mit langen und geraden Beinen, einem prächtig gerundeten Gesäß, festen, prallen Brüsten und einem ebenmäßig geschnittenen Gesicht, das von schwarzen Haaren umrahmt war.
Mileva, Ziora, Saila und Oruet liefen zu Ilana, umringten sie und sprachen aufgeregt auf sie ein.
„Hol’s der Henker!“ ächzte der Profos. „Die sind ja auch nackt wie die – wie die Seehunde!“
„Mann, Mann“, sagte Big Old Shane. „Merkst du das jetzt erst?“
„Ich glaube, er hat Schlick auf den Augen“, sagte Ferris Tucker. Er rechnete fest damit, daß der Profos ihm dafür einen wilden Fluch an den Kopf schleudern würde, doch er hatte sich getäuscht. Carberry sah nach wie vor zu den fünf Mädchen und schien total vernagelt zu sein.
Sir John schwebte schon seit einiger Zeit über dem Strand, aber erst jetzt, als der Kampf vorbei war, ließ er sich kreisend sinken und landete auf der linken Schulter Carberrys.
„Schockschwerenot“, sagte der Profos. „Kannst du mich nicht in Ruhe lassen, du alter Krakeeler?“ Er wandte den Kopf, gewahrte dabei die amüsierten Blicke, die die anderen ihm zuwarfen, und ließ ein etwas übertriebenes Räuspern vernehmen. „Also“, brummte er. „Das wäre geschafft. Ho, seht doch, wie sich diese Hundesöhne verholen.“ Er deutete mit dem Zeigefinger zum Wasser.
Sehr rasch hatten sich die Kanus und Piraguas – insgesamt waren es acht – zu einem kleinen Verband formiert und traten die Flucht an. Als sie sich außerhalb der Reichweite aller Schußwaffen, Speere und Pfeile befanden, richtete sich Borago in seinem Kanu auf, drehte sich noch einmal zu den Gegnern um und schüttelte die Faust gegen sie. Er rief mit hoher Stimme gut ein Dutzend Worte, von denen die Seewölfe kein einziges verstanden.
Ilana trat zu Carberry, Ben, Shane und den anderen und sagte: „Ich weiß nicht, wie wir euch danken sollen. Wer seid ihr?“
Ben Brighton zwang sich, nur in ihr Gesicht zu sehen und seinen Blick nicht an ihrem wunderbaren Körper hinabwandern zu lassen.
„Ich verstehe dich nicht“, antwortete er. „Sprichst du Spanisch oder Portugiesisch?“
Ilana schaute ihre Freundinnen an. „Begreift ihr, was sie sagen?“
„Nein“, erwiderte Mileva. „Sie müssen von weit her sein. Sie sind über das große Wasser gesegelt.“
„Vielleicht sind sie Götter“, sagte Ziora. „Sie haben uns vor der größten Schande bewahrt, die uns widerfahren konnte.“
Saila schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, daß sie Götter sind. Aber sie sind gute, starke Männer, die es verdient haben, daß Tubuago, dein Vater, Ilana, sie reich beschenkt für das, was sie getan haben.“
Carberry kratzte sich am Kinn. „Verflucht noch mal – wo ist eigentlich Hasard?“ Er blickte sich um und sah seinen Kapitän bei Blacky knien. Blacky lag völlig reglos auf dem Rücken und hatte die Arme und Beine weit von sich gestreckt.
„Heiliger Strohsack“, sagte der Profos, dann setzte er sich in Bewegung und eilte zu Hasard, Blacky und Dan hinüber, froh darüber, nicht mit den unbekleideten Inselschönen radebrechen zu müssen, entsetzt jedoch über Blackys Zustand.
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