Im Sturmwind hatten die Männer und Frauen zu ihren Schiffen übergesetzt und die Prahos und die „Isabella“ in eine geschützte Bucht an der Leeseite der Insel Rempang verholt. Den Orang Laut war es im weiteren Verlauf der Nacht auch gelungen, ihre Auslegerboote von dem Landeplatz in die Bucht zu verholen. Bei ihrem Eintreffen waren sie an der Nordküste an Land gegangen und mußten jetzt mit den Booten die halbe Insel runden, was kein leichtes Stück Arbeit war. Aber sie waren glücklich, feststellen zu können, daß die kleinen Prahos keinerlei Schaden genommen hatten. Der Seewolf hatte vor seinem Kampf gegen Bulbas angenommen, der Tiger habe die Boote kurz und klein geschlagen, aber in diesem Punkt hatte er sich getäuscht. Bulbas heiliger Respekt vor dem Wasser hatte eine schützende Barriere vor den Booten errichtet, die der Mörder nicht hatte überbrükken können.
Die geschützte Bucht wurde zum provisorischen Lager der Seewölfe und der Malaien.
Kutabaru, der Häuptling der Wassernomaden, hatte sich inzwischen bereiterklärt, für Sotoros Sache mitzukämpfen. Mit Otonedjus Männern und den Orang Laut zählte der Trupp des Tigers von Malakka mittlerweile also weit über hundert Köpfe.
„Genug, um eine Republik zu gründen“, sagte Sotoro zu Hasard, als er sich auf die Einladung des Seewolfs hin mit Yaira an Bord der „Isabella“ begab. „Wir werden auf Rempang Dörfer bauen, das Land urbar machen und als Alleinversorger auf keine Hilfe von außen angewiesen sein.“
„Die Spanier dürfen davon nichts merken“, gab der Seewolf zu bedenken.
„Wir werden den Dschungel als Sichtschutz an den Ufern wuchern lassen“, erwiderte der Tiger. „Und für unsere Schiffe gibt es genügend Versteckmöglichkeiten. Ich denke, wir können Jahre unter diesem Tarnmantel leben, ohne eine Invasion befürchten zu müssen.“
„Meinen Segen dazu habt ihr“, sagte Hassard. „Sotoro, ich möchte dir jetzt ein paar Seekarten zeigen, die ich auf dem Weg von China hierher ergattert habe. Vielleicht kannst du mir noch ein paar Hinweise geben, die für die Fortsetzung unserer Reise von großem Wert sind.“
„Du weißt ja, ich bin unter den Spaniern gefahren.“
„Eben deswegen. Gehen wir in meine Kammer im Achterkastell.“
Kurze Zeit darauf betraten sie die gemütliche Kammer im Heck der leicht schwankenden „Isabella“. Ein mittelschwerer Sturm tobte über die Insel Rempang weg, doch die Bucht lag behütet genug in Lee, und die beiden Männer und das schöne Mädchen konnten noch lange über den Karten und in ihre Erzählungen vertieft beim Schein der Öllampe zusammensitzen.
Erst kurz vor Anbruch des neuen Tages verließen Sotoro und Otonedjus Tochter die große Galeone wieder, um auf die „Yaira“ zurückzukehren. Hasard legte sich in seiner Koje zur Ruhe. Er wollte wenigstens noch ein oder zwei Stunden schlafen.
Im Morgengrauen ließ der Wind wieder nach, und die Wogen auf offener See glätteten sich. Hasards traumdurchwebtes Dahindämmern wurde jedoch abrupt durch einen Ruf unterbrochen, der über die Bucht hallte.
„Mastspitzen in Südost!“
Hasard war sofort wach. Kein Zweifel, es war Bill gewesen, der die Worte ausgestoßen hatte. Bill, der Schiffsjunge der „Isabella“, hockte seit der Wachablösung im Großmars und hielt weisungsgemäß die Augen offen, wie sich das für einen Ausguck gehörte. Jetzt, in aller Frühe, bewies er, daß er nicht geschlafen hatte.
Hasard sprang aus der Koje, stieg in seine blaue Hose und die ledernen Stulpenstiefel, zog sich Hemd und Wams über, dann lief er durch den mittleren Achterdecksgang nach vorn, nahm den Niedergang zum etwas höher befindlichen Schott mit einem Satz und stieß das Schott auf. Er lief auf die Kuhl hinaus.
Sonnenglast ließ die frisch geschrubbten Planken der „Isabella“ schimmern und verhalf den kleinen Wellen in der Bucht zu glitzernden Kronen. So kurz nach ihrem Aufgang besaß die Sonne hier bereits große Macht, während ihr Licht weiter westlich über der Insel von aufsteigenden Nebelstreifen gefiltert wurde.
Hasard mußte die Hand als Schutz über die Augen legen, um zu Bill in den Hauptmars aufzublicken.
Ben Brighton, Carberry und Shane hatten sich ebenfalls auf Oberdeck eingefunden und gesellten sich zum Seewolf. Ferris Tucker, Smoky, Stenmark und die beiden O’Flynns stürmten ihnen soeben nach.
Der alte Donegal wetterte und rief den Deckswachen Sam Roskill und Jeff Bowie zu: „Was zum Teufel ist jetzt wieder los? Kann man nicht mal in Ruhe einen Törn an der Koje horchen?“
„Mastspitzen, du hörst es doch!“ rief Roskill eher mürrisch zurück.
Auf der „Yaira“ und den anderen Prahos war es inzwischen auch lebendig geworden, und an Land richteten sich überall die Gestalten jener Eingeborenen auf, die die Nacht allen Gefahren der Selvas zum Trotz zwischen den Büschen verbracht hatten, weil sie den Wächtern des Tigers sofort zu Hilfe eilen wollten, falls Bulbas sich regte.
Bill lehnte sich über die Umrandung des luftigen Postens, legte die Hände wie einen Schalltrichter an den Mund und rief seinem Kapitän zu: „Fünf Schiffe der großen Klasse, Sir, ich kann sie jetzt deutlich auseinanderhalten.“
„Welchen Kurs nehmen sie?“
„Offenbar Westen.“
„Also an Rempang vorbei?“
„Sieht so aus, Sir!“
„Sieht so aus“, äffte Old O’Flynn einen Yard neben der Kuhlgräting den Schiffsjungen nach. „Kann der Bengel sich nicht deutlicher ausdrükken?“
„Kann er nicht“ nahm Carberry Bill in Schutz. „Denn wenn die Himmelhunde; die die Schiffe führen, uns sichten, schlagen sie möglicherweise einen anderen Kurs ein — wer immer sie sein mögen. Holzauge, sei wachsam.“
„Meinst du damit mich?“ fragte der Alte mit verkniffener Miene.
Carberry grinste, was seinem Narbengesicht einen fratzenhaften, beinah monströsen Ausdruck verlieh. „Natürlich nicht, Donegal. Niemals würde ich so was zu dir sagen. Du hast ja auch gar kein Holzauge, sondern nur ein Holzbein. Oder?“
„Ach, geh doch zum Teufel“, knurrte der Alte.
Insgeheim maß noch keiner von der Crew den fremden Schiffen im Südosten große Bedeutung bei. Man nahm allgemein an, die Segler würden auf ihrem Kurs weiterziehen.
Hasard aber wollte es genau wissen. Er enterte katzengewandt in den Wanten auf, kletterte zu Bill in den Mars und richtete sein Spektiv in die angegebene Richtung. Der kreisrunde Ausschnitt der Optik fing zunächst die Mastspitzen ein, die sich da über die Kimm geschoben hatten, dann die dazugehörigen Rümpfe, die mittlerweile auch sichtbar geworden waren.
Etwas blaß nahmen sich die Konturen unter dem Glanz der jungen Morgensonne aus, aber der Seewolf konnte genug Einzelheiten erkennen.
„Wirklich fünf Schiffe“, bestätigte er Bills Aussage. „Vier Dreimaster – und ein imposanter Viermaster. Muß ein wirklich bildschönes Schiff sein. Lassen wir sie noch ein bißchen näher heran, dann kann ich dir auch sagen, ob es sich um Kriegs- oder Frachtschiffe oder um einen gemischten Verband handelt.“
Bill beobachtete ebenfalls unausgesetzt durch seinen Kieker. „Das letztere ist doch wohl naheliegend, Sir.“
„Glaubst du? Und noch schöner wäre es, wenn eine dieser Galeonen wertvolle Ladung an Bord hätte, nicht wahr?“
„Oder zwei, drei Galeonen …“
„In dem Fall würden wir sie angreifen, entern und von den Mastspitzen bis zum Kielschwein ausnehmen wie fette Gänse“, entgegnete der Seewolf schmunzelnd. „Das wolltest du doch ausdrücken, Bill, nicht wahr?“
„Äh – ja, Sir.“
„So erpicht darauf, daß es mal wieder Zunder gibt?“
„Ganz ehrlich?“
„Sicher doch.“
„Ja, Sir, und wir haben eine richtige Streitmacht zur Verfügung, mit der wir einen solchen Verband knakken könnten“, stieß der Junge mit stolz geschwellter Brust hervor.
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