Hasard stieß die Jolle von der Bordwand der „Isabella“ ab und begann zu pullen. Jetzt sah er Ben Brighton auf dem Achterdeck, wie er ihm mit sorgenvoller Miene nachschaute. Auch etliche andere waren zu sehen – Big Old Shane, der alte O’Flynn und die Zwillinge, neben ihnen die Bordhündin Plymmie mit den Vorderpfoten auf dem Schanzkleid. Hasard mußte grinsen, trotz allem. Samt und sonders zogen sie Gesichter wie drei Tage Regenwetter, und nicht einmal Plymmie bildete da eine Ausnahme. Es war überhaupt erstaunlich, welchen fast menschlichen Verstand die Wolfshündin manchmal entwickelte.
„So schnell werdet ihr mich nicht los!“ rief der Seewolf. „Reißt euch gefälligst zusammen.“
Sie reagierten mit einem müden Winken. Sehr überzeugt schienen sie von seiner Zuversicht nicht zu sein. Dabei lebten sie mehr oder weniger alle mit der Ansteckungsgefahr. War es anfangs Asiaga gewesen, die sie an Bord der „Isabella“ gesundgepflegt hatten, so befanden sich jetzt die fieberkranken Timucua-Indianer aus der Waccasassa-Bucht in der Krankenkammer unter der Back. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen war ein gewisses Risiko also auch auf der „Isabella“ selbst nicht ausgeschlossen.
Das änderte aber nichts daran, daß die Wahrscheinlichkeit, sich anzustecken, auf der „San Donato“ ungleich größer war.
Hasard pullte mit kraftvollen Schlägen und trieb die Jolle zügig auf die Galeone der Indianer zu. Auf beiden Schiffen waren die Segel aufgegeit und Treibanker ausgebracht worden. In keiner Himmelsrichtung zeigten sich Mastspitzen am Horizont, es herrschte also keinerlei Gefahr. Die „Galicia“ hatte schwer gerupft die Flucht ergriffen, und ihr Kapitän hätte schon ein hirnloser Narr sein müssen, wäre er noch einmal umgekehrt. Dessen ungeachtet waren aber die Ausguckposten auf der Hut.
Hasard wandte den Kopf und sah, daß ihn nur noch wenige Yards von der „San Donato“ trennten. Er manövrierte die Jolle an die Jakobsleiter heran, holte die Riemen ein und vertäute das Boot.
Das Schiff, soviel ließ sich aus der Nähe erkennen, war sorgfältig und solide gebaut. Die Timucua-Indianer, die auf der Werft in der Waccasassa-Bucht zur Zwangsarbeit verurteilt gewesen waren, hatten hervorragende Arbeit geleistet. Sie kannten dieses Schiff, das sie nach der blutigen Revolte in der Bucht an sich gebracht hatten, und waren mit jeder einzelnen Planke und mit jedem Nagel vertraut. Aber ihnen fehlte das seemännische Können, und so waren sie auf die Hilfe jener fünf Spanier angewiesen, die sie als Gefangene mit an Bord genommen hatten.
Der Seewolf gab sich einen Ruck. Ohne zu zögern, enterte er auf und trat durch die Pforte im Schanzkleid. Er verharrte. Die Eindrücke trafen ihn mit jäher Intensität.
Aus den Unterdecksräumen drang das Stöhnen der Kranken, dazu die Schreie jener, deren gepeinigte Körper von Fieberkrämpfen gepackt und geschüttelt wurden. Das ganze Schiff war erfüllt von diesen Lauten menschlichen Leidens, und sie trafen den Seewolf bis ins Mark.
Überall auf den Decks hockten Menschen in apathischer Regungslosigkeit – Frauen, Kinder und alte Leute. Nur ihre Augen waren auf den großen schwarzhaarigen Engländer gerichtet. Hoffnung vermochte Hasard in diesen Augen nicht zu lesen, nur so viel, daß sich diese bedauernswerten Menschen mit ihrem Schicksal abgefunden hatten und keine Erwartungen mehr hegten.
Vier Spanier waren damit beschäftigt, den knapp dreißig gesunden Timucua-Männern Anweisungen zu geben, ihnen in der Kürze der Zeit das Notwendigste an seemännischem Wissen zu vermitteln.
Der fünfte Spanier erwartete den Seewolf an der Seite des Häuptlings. Shawano war ein großer, wuchtig gebauter Mann um die sechzig Jahre. Sein Haar war schlohweiß, das bronzehäutige Gesicht von vielen scharfen Furchen durchzogen.
Shawano hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Ein kaum erkennbares Lächeln kerbte sich in seine Mundwinkel, als der hochgewachsene Mann aus dem fernen England auf ihn zutrat. Die Bekleidung des Häuptlings bestand aus dünnem, weichem Leder, und das hemdartige Oberteil wurde von feinen Rohhautschnüren anstelle von Knöpfen zusammengehalten. Die Beinkleider reichten bis auf die Knöchel, die weichen Ledersandalen waren gleichfalls mit Rohhautschnüren zusammengefügt.
„Ich begrüße Sie mit großer Freude, Señor Capitán“, sagte Shawano in einem kehligen Spanisch, „ich, Shawano, Häuptling der Timucua.“ Aus seiner Stimme klang ungebrochene Selbstsicherheit. Er repräsentierte den Stolz seines Volkes, das sich auch durch schlimmste Schicksalsschläge nicht zu winselnden Kreaturen erniedrigen ließ.
„Mein Name ist Philip Hasard Killigrew“, entgegnete der Seewolf mit einer angedeuteten Verneigung. „Ich bin hier, um mit Ihnen über die Zukunft zu reden, Shawano.“
Der weißhaarige Mann nickte, schwieg einen Moment und dachte offenbar nach. Dann wandte er sich dem Spanier an seiner Seite zu und redete in der Sprache der Timucua auf ihn ein. Der Spanier, ein muskulös gebauter mittelgroßer Mann, glich in seinem Äußeren schon mehr den Indianern als seinen weißen Landsleuten. Ein Stirnband hielt seine halblangen schwarzen Haare zusammen, um den linken Oberarm trug er einen Metallreif, eine leichte offene Weste war alles, womit er seinen kräftigen Oberkörper bedeckte. Das schwere Entermesser steckte ohne Scheide unter seinem Hosengurt, die Füße des Spaniers waren nackt.
Shawanos Redefluß endete nach einem bekräftigenden Knurrlaut.
Der Spanier blickte den Seewolf an.
„Erlauben Sie, daß ich mich vorstelle, Señor Killigrew. Mein Name ist Marcos. Ich habe zwei Jahre in der Siedlung an der Waccasassa-Bucht gelebt und kenne mich in der Sprache der Timucua sehr gut aus. Häuptling Shawano sagt, daß seine Spanischkenntnisse nicht ausreichen, um sich so zu bedanken, wie er es gern möchte. Ich soll Ihnen sagen, daß er und sein Volk sich zutiefst in Ihrer Schuld fühlen. Ohne Sie und Ihre Männer läge diese Galeone jetzt auf dem Grund der See, und keiner von uns wäre noch am Leben. Im Namen meiner vier Freunde schließe ich mich diesem Dank an, Señor Killigrew.“ In Marcos’ Augen stand ein fast ehrfürchtiges Leuchten.
„Wir haben das getan, was für uns selbstverständlich ist“, sagte Hasard.
Marcos übersetzte, und Shawano antwortete mit wenigen abgehackt klingenden Worten.
„Der Häuptling meint, daß Sie zu bescheiden sind“, sagte der Spanier, „er fragt, wo Sie das Palaver führen möchten, in der Kapitänskammer oder auf dem Achterdeck. Er ist mit den Gepflogenheiten der Europäer nicht vertraut und möchte Sie nicht beleidigen.“
„Auf dem Achterdeck ist es luftiger“, entgegnete Hasard lächelnd, „eine Frage vorweg, Marcos: Sie und Ihre Freunde sehen nicht aus wie Gefangene, die von den Timucua geknechtet werden. Täusche ich mich?“
„Nein, ganz und gar nicht, Señor Killigrew. Es ist so: Wir hatten schon lange die Nase voll von unserem Kommandanten. Don Angelo Baquillo ist ein Menschenschinder, anders kann man es nicht nennen. Daß die Indianer rebelliert haben, war zu erwarten. Es geschah Baquillo und seinen Gefolgsleuten recht. Man muß sich schämen, wenn man daran denkt, wie niederträchtig sie die Timucua behandelt haben. Meine Freunde und ich sind da einer Meinung.“
„Aber Sie wurden doch von den Timucua gefangengenommen“, sagte der Seewolf zweifelnd, „Sie sind doch nicht freiwillig an Bord dieses Schiffes gegangen.“
„Das ist richtig, Señor Killigrew. Nur wurde uns nach und nach klar, auf welcher Seite wir wirklich stehen. Was glauben Sie, wie wir uns bei dem Gefecht mit der ‚Galicia‘ gefühlt haben! Weder Don Angelo Baquillo noch Don Bruno Spadaro, der Kapitän, haben Rücksicht darauf genommen, daß sich Landsleute an Bord der ‚San Donato‘ befinden.“ Marcos preßte für einen Moment grimmig die Lippen aufeinander, ehe er fortfuhr. „Das sagt alles, denke ich. Wir sind jetzt richtige Überläufer, wenn Sie so wollen. Wir haben keine Lust mehr, unseren Kopf für die spanische Krone und das sogenannte Vaterland hinzuhalten. Treue Soldaten sind wir die längste Zeit gewesen. Lieber bieten wir Ihnen unsere Dienste an. Sie haben uns schließlich auch vor dem bitteren Ende bewahrt.“
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