Denn dies war ein Moment, in dem nur noch das wirklich Wesentliche eine Rolle spielte.
Nie würde Hasard das Leuchten in den Augen des großen weißhaarigen Mannes vergessen, als dieser ihm und seinen Söhnen entgegensah. Und dann, nachdem Arne sie einander vorgestellt hatte, wurde es Gewißheit, was schon längst mehr als eine Vermutung gewesen war. Ja, der Weißhaarige war niemand anders als Hasso von Manteuffel, Arnes Vater und jüngerer Bruder Godefroy von Manteuffels.
„Mein Neffe“, sagte Hasso von Manteuffel freudig und erschüttert zugleich. Seine Stimme klang leise und vibrierend, und Tränen standen in seinen Augen, als er Hasard in die Arme schloß.
Dann wandte er sich den Zwillingen zu und begrüßte sie mit der gleichen spontanen Herzlichkeit. Er drückte sie an sich, und sie ließen es geschehen, ein wenig verlegen zwar, doch von ihrem Vater wußten sie, welche verwandtschaftlichen Bande zu Arne und seiner Familie bestanden.
Hasso von Manteuffel konnte nur immer wieder die Jungen und ihren Vater ansehen.
„Mein Gott“, sagte der große weißhaarige Mann tonlos, „es ist, als ob man um Ewigkeiten zurückversetzt wird. Plötzlich wird die eigene Kindheit und Jugendzeit wieder lebendig, weil – weil ich durch euch meinen Bruder Godefroy vor Augen habe, als wäre er noch hier …“ Seine Stimme erstickte, und er strich den Jungen schweigend über die Haare.
Es war das erste Mal für Nils Larsen, daß ihm das Übersetzen schwerfiel. Und Hasard empfand jene Art von Schmerz, über die er in seinen Gesprächen mit Arne philosophiert hatte. Einen endgültigen Abstand von den bedrückenden Erinnerungen würde es niemals geben. Augenblicken wie diesem konnte man nicht aus dem Weg gehen.
Arne war es, der das Beklemmende der Situation überwinden half. Dabei begünstigten ihn einige dicke Regentropfen, die auf das Steinpflaster des Kais klatschten. Die Menschenschar begann sich aufzulösen, die ersten liefen fluchtartig davon.
„Laßt uns ins Haus gehen“, sagte Arne, „da haben wir es trockener und gemütlicher.“
„Aber ja, natürlich!“ Hasso von Manteuffel blinzelte verwirrt, als fände er erst jetzt in die Wirklichkeit zurück. Er mußte sich zwingen, seine Blicke von den Zwillingen und ihrem Vater loszureißen. „Entschuldigt meine Gedankenlosigkeit. Bitte seid meine Gäste.“ Er sah Nils Larsen an. „Das gilt selbstverständlich auch für Sie, Herr Dolmetscher.“
Nils lächelte geschmeichelt angesichts der neuen Dienstbezeichnung, die ihm damit verpaßt worden war.
Die letzten Schritte zum Haus mußten sie laufen. Denn der Himmel über Kolberg öffnete jetzt seine Schleusen, und von einer Sekunde zur anderen rauschte der Regen bindfadenstark nieder. Schlagartig war der Kai wie leergefegt. Die Willkommensschar – Handelsleute, Lagerhalter, Schiffsausrüster und deren Mitarbeiter – hatte sich in ihre Behausungen zurückgezogen.
Die von Manteuffels und ihre Besucher stürzten in das Halbdunkel des Hausflurs und schüttelten sich die Regentropfen aus der Kleidung. Nils Larsen schloß die Tür und legte den Innenriegel vor, nachdem Arne auf seinen fragenden Blick genickt hatte.
„Ich bitte vielmals um Entschuldigung“, sagte Hasso von Manteuffel lächelnd, „das Wetter ist wieder einmal nicht den Konditionen entsprechend geliefert worden. Aber immerhin – der April darf machen, was er will.“
„Wir haben ein ähnliches Sprichwort in England“, entgegnete Hasard und nickte.
Auf eine einladende Geste des großen weißhaarigen Mannes begaben sie sich in einen Wohnraum im Erdgeschoß des Hauses. In einem eisernen Ofen bullerte ein kleines Feuer, das den Raum mit behaglicher Wärme ausfüllte. Gegen die Fensterscheiben, zum Kai hin, trommelte der Regen, als fühle er sich ausgesperrt. Die Männer setzten sich in wuchtige Polstermöbel, und Hasso von Manteuffel bestand darauf, daß die Söhne des Seewolfs an seiner Seite Platz nahmen. Eine Bedienstete mit gestärkter weißer Schürze und einer blonden Haarkrone schaute herein. Der Hausherr bat sie, Tee zu bringen.
Arne entsprach dem Wunsch seines Vaters und berichtete noch einmal über die verhängnisvollen Einzelheiten, die zum Tod seiner Verlobten geführt hatten.
„Wenn Hasard und seine Männer nicht gewesen wären“, schloß Arne, „wären der Mörder und seine Helfershelfer allerdings entflohen. Nicht nur deswegen bin ich meinem Vetter – deinem Neffen, Vater – zu tiefstem Dank verpflichtet.“
Hasard winkte lächelnd ab.
„Arne übertreibt. Er ist genauso bedenkenlos auch für mich eingesprungen. Ich denke nur an unsere erste Begegnung in Wisby auf Gotland.“
Nach Hasso von Manteuffels fragendem Blick berichteten die beiden Vettern gemeinsam darüber, wie sie sich aus traurigem Anlaß im Kontorhaus des ermordeten Kaufmanns Jens Johansen kennengelernt hatten.
„Ich habe davon gehört“, sagte Hasso von Manteuffel mit sorgenzerfurchter Miene, „die Nachricht von Johansens und auch von Tyndalls Tod hat sich in den Häfen des Baltikums wie ein Lauffeuer verbreitet. Aber“, er sah Hasard einen Moment nachdenklich an, „sprechen wir lieber von den Dingen, die uns persönlich betreffen. Natürlich nur, wenn du dazu bereit bist, Hasard. Du weißt, was ich meine.“
Der Seewolf nickte, nachdem Nils Larsen in der gewohnt zügigen Art übersetzt hatte. Eine kleine Pause ergab sich, als die Hausangestellte den Tee servierte. Dann jedoch gab es für Hasard keinen Grund mehr, mit seinem Bericht zu zögern. Und es fiel ihm leichter, als er sah, wie der weißhaarige Mann, der sein Onkel war, seine Söhne in den Armen hielt. Und der Blick Hasso von Manteuffels klebte buchstäblich an den Lippen seines Neffen.
Hasard schilderte jene Jahre, in denen er begonnen hatte, zu begreifen. Jene Zeit, die er damit verbracht hatte, die Spuren seiner eigenen Vergangenheit zu verfolgen, bis er in Spanien erfahren hatte, welches unglückselige Schicksal seinen Eltern zugedacht war. Stück für Stück hatte er von dem Verhängnis erfahren, das dem spanischen Edelfräulein Graciela de Coria wegen ihrer Liebe zu Godefroy von Manteuffel vorbestimmt gewesen war.
Arnes Vater zog die Augenbrauen hoch. Interesse und Trauer in seinen Augen wichen einer hellwachen Gespanntheit. Hasard schrieb dies dem Umstand zu, daß es sich letzten Endes um das Schicksal von Hasso von Manteuffels Bruder handelte. Was sich hier, an diesem regnerischen Apriltag in Kolberg, zusammenbraute, konnte der Seewolf nicht im entferntesten ahnen.
So berichtete er weiter über seine Nachforschungen, die im Jahre 1580 zu schicksalsschweren Erkenntnissen geführt hatten. Hatte er zunächst vom Tod seiner Mutter erfahren, die von ihrer Familie wegen der Beziehung zu dem unerwünschten Deutschen tyrannisiert worden war, so war ein Hoffnungsschimmer aufgeflackert, als sich herausstellte, daß sein Vater noch am Leben sein mußte. Diese Hoffnung war jäh erloschen, als Hasard und seine gesamte damalige Crew miterleben mußten, wie Godefroy von Manteuffel auf gemeinste Weise ermordet wurde.
Hasard schilderte auch das tragische Geschehen um seine junge Frau Gwendolyn, die beim Übersetzen von England nach Calais im Sturm umgekommen war. Und er erinnerte daran, wie er seine Söhne bei einer Gauklertruppe in Nordafrika nach langen Wirrungen gefunden hatte.
„Eigentlich sollten wir mal wieder ein paar von den alten Kunststücken üben“, sagte Philip junior.
„Dann hätten wir in jedem Hafen eine Menge Zuschauer“, fügte Hasard junior begeistert hinzu.
Hasso von Manteuffel strich ihnen abermals über das Haar, nachdem Nils Larsen übersetzt hatte.
„Darauf solltet ihr lieber verzichten“, sagte der weißhaarige Mann mit gütigem Lächeln, „vergeßt nicht, daß euer Vater im Auftrag der englischen Krone segelt.“ Mit großen Augen blickten die Jungen beinahe andächtig zu ihm auf.
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