Ein dicker Wächter schritt im Stall auf und ab. Noch hatte er nichts bemerkt. Alis er in der einen Box eine Bewegung wahrnahm, die ihn mißtrauisch stimmte, schritt er auf die Box zu. Plötzlich fuhr der Mörder vor ihm hoch und schleuderte seinen Dolch.
Der Dolch bohrte sich in die Brust des Wächters. Der Mann wollte schreien und Alarm schlagen. Er hatte nicht mehr die Kraft dazu. Grotesk hob er die Arme und verdrehte die Augen. Dann fiel er hin. Seinen eigenen Aufprall spürte er schon nicht mehr. Er war tot.
Der Maskierte schlich zur Stalltür und pirschte in die Abstellkammer hinüber. Dann verharrte er an der Außentür und spähte durch einen Spalt nach draußen.
Im schwach erleuchteten Park schritten zwei Wächter auf und ab. Er mußte sie meiden. Es hatte keinen Sinn, auch sie zu töten. Den einen überwältigte er vielleicht. Der andere würde laut brüllen und alles alarmieren.
Der Vermummte ließ sich auf den Boden nieder und drückte vorsichtig gegen die Tür. Ganz langsam schwang sie auf. Noch registrierten die Wachtposten nichts.
Der Mörder kroch zum nächsten Zierstrauch. Er blieb liegen. Sein Atem ging flach. Er zwang sich, seine Erregung zu beherrschen. Wenn sie ihn jetzt entdeckten, hatte er verspielt.
Aber auch dieses Mal hatte er wieder Glück. Er robbte weiter, zu den Bäumen, dann an einer Hecke entlang. Die Wächter sagten etwas, das er nicht verstand. Es galt nicht ihm.
Der Harem war jetzt nicht mehr weit entfernt. Zum Greifen nah hatte der Eindringling ihn vor sich. Er grinste unter seiner Kapuze. Es würde wieder ein Opfer geben. Trotz der Tatsache, daß die Wächter den Brunnenschacht besetzt hatten. Trotz der Hilfe, die diese Engländer, diese Giaurs, dem Sultan leisteten.
Quabus bin Said würde nicht mehr lange herrschen. Sein Reich zerbröckelte. Er glaubte, daß ein Fluch auf ihm und seinem Palast lastete. Bald war er völlig erledigt, und es würde dem Mörder ein leichtes sein, auch ihm den Todesstoß zu versetzen.
Zoll für Zoll schob sich der Mörder auf die weiße Wand zu. Hinter verzierten, vergitterten Fenstern schimmerte Licht. Hin und wieder war die Stimme einer Frau zu vernehmen, ernst und besorgt. Im Harem des Sultans wurde nicht mehr gelacht, seit Lamia getötet worden war. Der Schrecken ging um und beherrschte die Szene.
Vor dem Haupteingang des Frauenhauses stand ein breitschultriger Wächter. Der Vermummte wußte, daß er ihn nicht töten konnte wie die anderen. Dieser Mann war höllisch auf der Hut. Er würde auch einem blitzartig geschleuderten Messer noch auszuweichen verstehen. Er gehörte zu den besten Männern des Quabus bin Said. Eben darum war er gerade hier postiert worden.
Weiter – an der Seitenmauer entlang zu einem Nebeneingang. Der Eingang war verriegelt, doch der Mörder wußte den Riegel zu öffnen. Lautlos. Die Tür knarrte nicht, sie bewegte sich in gut geölten Scharnieren.
Der Mörder schlüpfte ins Innere des Harems. Jetzt umgaben ihn die süßen und aromatischen Düfte, die von der Anwesenheit von Frauen kündeten. Blumen des Orients, dachte er sarkastisch, jetzt töte ich wieder eine von euch.
Daß Nabila noch am Leben war, ahnte er nicht. Er war überzeugt, daß er zwei der Lieblingsfrauen des Sultans erdolcht hätte: Lamia und Nabila. Jetzt war die dritte an der Reihe, auch eine der Bevorzugten des hohen Herrn. Der Mörder schlich auf ihr Gemach zu. Sie mußte sterben, damit Quabus bin. Said Höllenqualen litt. Ihr Name: Zaira.
Hasard begriff es als erster.
„Dieser Teufel hat uns geleimt“, murmelte er. „Verdammt, was für ein Narr bin ich doch gewesen!“ Er wandte sich von der Gruppe Männer ab und eilte zu dem Höhlenloch. Plymmie schwamm noch in der Nähe des Ufers, konnte den Unheimlichen aber nicht finden. Und aufgetaucht war der Mörder noch nicht.
Philip junior sah seinem Vater nach. Dann setzte auch er sich in Bewegung.
„Ein Trick“, sagte er. „Ein verdammter Trick.“
Die anderen blickten ihn für einen Moment verblüfft an, dann schien es auch ihnen aufzugehen.
„Zum Donner“, sagte Mac Pellew. „Sind wir denn total blind?“
Der Seewolf traf als erster am Eingang des geheimen Stollens ein. Er gab sich den Wächtern durch eine Parole zu erkennen, die sie vorher abgesprochen hatten, doch die Wächter antworteten nicht. Hasard spürte, wie es ihn eiskalt überlief.
Dann sah er die Männer. Ihre Leichen schwammen im Wasser. Hasard arbeitete sich mit einem Fluch an ihnen vorbei. Eine Lampe stand auf dem Boden. Um ein Haar hätte er sie umgestoßen. Er nahm sie auf, entfachte sie und rannte weiter. Hinter ihm trafen nach und nach die Zwillinge, Mac, Mustafa und die übrigen Palastwächter ein, aber Hasard wollte nicht auf sie warten. Auch auf Plymmie nicht. Bis die Hündin bei ihm war, hatte er den Auslaß des Brunnenschachtes erreicht.
Wieder hatte sich der Mörder mit geradezu unglaublicher Schnelligkeit bewegt. Im Handumdrehen war er in die Höhle eingedrungen, hatte zwei Wachen umgebracht und einen Vorsprung gewonnen – obwohl er nicht über eine Lampe verfügte. Auch das war wieder eine Bestätigung dafür, wie gut sich der Maskierte auskannte. Er durchlief den Schacht in völliger Finsternis, ohne zu straucheln oder irgendwo anzuecken.
Hasard wußte, wie wahnsinnig er sich beeilen mußte, wenn er den Mörder noch stoppen wollte. Was sein Ziel war, wußte er – der Harem. Daran bestand kaum ein Zweifel. Es war jetzt eine Frage von Augenblicken, ob der nächste Mord verhindert werden konnte. Und es ging ums Prestige.
Niemals hätte Hasard damit gerechnet, daß der Vermummte imstande war, einen ganzen Trupp von Häschern zum Narren zu halten. Daß er es fertigbrachte, trotz der gestellten Falle in den Stollen einzudringen, war von vornherein ausgeschlossen gewesen. Wieder einmal zeigten die Ereignisse, welche überraschende und völlig unlogische Wende gewisse Situationen nehmen konnten.
Hasard kletterte an den Eisenstäben hoch. Die Luke flog unter der Heftigkeit seiner Handbewegung auf. Das Pferd zuckte zusammen und stieg mit den Vorderläufen auf. Hasard kroch aus der Lukenöffnung, flüsterte dem Tier ein paar beschwichtigende Worte zu und verließ die Box.
Dann sah er den Wächter – ebenfalls tot. Jemand hatte ihm einen Dolch in die Brust gerammt. Hasard jagte durch den Stall und stürmte in die Abstellkammer. Jetzt gab es nur noch eine Chance, den Lauf der Dinge zu bremsen.
Hasard stürzte aus dem Gebäude und hetzte durch den Park. Er raste auf den Harem zu. Der breitschultrige Wächter – ein Koloß von Mann – versperrte ihm den Weg. Natürlich erkannte er Hasard wieder, und er hatte auch von Quabus bin Said entsprechende Anweisungen, daß der englische Kapitän völlige Handlungsfreiheit hatte. Andererseits durfte kein Fremder – und schon gar nicht ein Ungläubiger aus der Alten Welt – die Gemächer der Frauen betreten.
Hasard rief dem Wächter die Parole zu. Der Mann blieb unbeirrt stehen. Der Seewolf sprang auf ihn zu und rammte mit der Schulter seine Brust. Der Araber geriet ins Wanken. Seine Augen weiteten sich, sein Gesicht war verzerrt.
„Zurück!“ brüllte er.
Hasard stieß ihn zur Seite und drang in den Harem ein. Hinter seinem Rücken schlug der Wächter Alarm, und es entstand ein tumultartiger Zustand im Hof und im Park des Palastes. Hasard achtete nicht darauf, er raste weiter.
Ein Schrei gellte durch den Harem. Er wies Hasard den Weg – um die nächste Ecke des Korridors auf eine der Türen zu, die mit Perlschnüren verhängt war. Mit einem Satz war der Seewolf im Inneren – und hatte den Mörder vor sich.
Zaira kniete vor dem Vermummten. Sie war nur dürftig bekleidet. Als der Maskierte in ihr Gemach gesprungen war, war sie vor Schreck auf die Knie gesunken. Jetzt schrie sie wieder gellend und zitterte am ganzen Leib. Der Mörder hatte den Krummdolch erhoben und wollte zustoßen.
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