Sultan Quabus bin Said stand mit verschränkten Armen im Park und blickte zu den Männern. Mac und Philip trugen die schwere Kiste, der Kutscher schritt vor ihnen her. Der Seewolf, Hasard junior und Mustafa standen beim Sultan. Plymmie hatte sich auf die Hinterläufe gehockt und betrachtete neugierig den Kutscher.
„Du hast zwei Ärzte?“ fragte der Sultan den Seewolf. Wieder schien Argwohn in ihm aufzukeimen.
„Einen Feldscher und einen Helfer“, erwiderte Hasard.
„Ich weiß nicht, ob ich gestatten kann, daß gleich zwei Ungläubige die Gemächer betreten.“
„Es ist ein Verstoß gegen die Gesetze des Korans“, sagte Mustafa. „Aber ich glaube doch, der Prophet wird ein Auge zudrücken, Herr. Es geht um Nabilas Leben. Und die Europäer haben wirklich bessere Behandlungsmethoden als wir.“
„Ja“, sagte der Sultan leise. „Ja, das sehe ich ein.“ Er gab seinem Berater einen Wink. „Führe die Männer in das Arztgemach. Sie sollen alles tun, was in ihren Kräften steht.“
Mustafa bedeutete dem Kutscher und Mac Pellew, mit ihm zu gehen. Der Kutscher wechselte nur ein paar knappe Worte mit seinem Kapitän, dann folgte er dem hageren Araber. Ein Wächter begleitete die Männer, er schleppte mit Mac zusammen die Kiste. Philip junior gesellte sich zu seinem Vater und seinem Bruder.
„Gibt es Spuren von dem Mörder?“ fragte Philip junior.
„Bisher keine“, erwiderte der Seewolf. „Plymmie hat draußen gesucht. Inzwischen habe ich mit ihr auch den Stall abgeforscht. Nichts.“
„Wir sollten es noch einmal versuchen“, sagte Philip.
„Einverstanden“, pflichtete sein Bruder ihm bei. „Los, gehen wir.“
Die Zwillinge entfernten sich in Richtung der Stallungen und verschwanden in ihrem Inneren. Der Seewolf blieb bei Quabus bin Said. Sie konnten sich jetzt nicht mehr unterhalten. Mustafa fehlte. Der Sultan schien jedoch auch kein Bedürfnis mehr zu verspüren, zu reden.
Er stand mit abgewandtem Gesicht da. Seine Miene war verschlossen. Er konnte immer noch nicht fassen, was geschehen war. Sein Geist wollte die harten Tatsachen nicht akzeptieren.
Hasard ging zu den Zwillingen in die Stallungen. Plymmie roch am Boden und an den Mauern. Die Pferde wurden unruhig. Sie schnaubten und wieherten. Ein Hengst stieg mit den Vorderläufen auf. Philip junior hielt die Hündin etwas zurück.
„Wir schaffen es nicht, bis in die Boxen vorzudringen“, sagte Hasard junior.
„Das ist mir vorhin auch nicht ganz gelungen“, entgegnete sein Vater. „Am besten wäre, wenn die Pferde hinausgebracht würden.“
„Kann man das nicht veranlassen?“ fragte Philip junior. „Die Lösung des Rätsels ist bestimmt in einer der Pferdeboxen.“
„Ich glaube, wir müssen abwarten“, sagte der Seewolf. „Der Sultan ist vorerst nicht mehr ansprechbar.“
„Aber die Zeit begünstigt die Flucht des Mörders“, sagte Hasard junior. „Er kann Masquat verlassen. Niemand wird ihn jemals finden.“
„Du begehst einen Denkfehler“, erwiderte der Seewolf. „Der Mörder hat auch nach dem ersten Anschlag den Ort nicht verlassen. Er ist zurückgekehrt. Und er wird es wieder versuchen, in den Palast einzudringen und jemanden zu erstechen.“
„Das muß verhindert werden“, sagte Philip junior. „Wir müssen den Kerl erwischen, um jeden Preis. Können wir ihm nicht eine Falle stellen?“
„Wir werden uns einen Plan zurechtlegen“, sagte der Seewolf. Er hatte bereits einiges aufs Spiel gesetzt, als er den Unheimlichen auf eigene Faust verfolgt hatte. Und er würde noch mehr tun – um den Tod der Haremsdame Lamia und des Eunuchen aufzuklären und dem Sultan zu helfen.
Dieser Mann hatte es verdient, daß man ihn unterstützte. Nicht jeder arabische Fürst war so aufgeschlossen wie Quabus bin Said. Das hatten die Männer der „Santa Barbara“ erst im südlichen Jemen erfahren müssen, wo es erheblichen Ärger mit dem Sultan Mahmud Al-Amir und dessen Schergen gegeben hatte.
Bob Grey wäre es um ein Haar an den Kragen gegangen, erst in letzter Minute hatten die Mannen ihn, die hübsche Asha Sharam und die Zwillinge befreien können. Asha war an Bord eines Schiffes nach Portugal unterwegs. Bob Grey träumte davon, sie eines Tages wiederzusehen, denn er hatte sich unsterblich in sie verliebt.
Der Orient hatte seine Reize – und seine Schrecken. Sehr schnell konnte das Paradies zur Hölle werden. In Masquat ging ein Frauenmörder um. Alle Anzeichen deuteten darauf hin, daß er den Harem des Sultans auch weiterhin terrorisieren würde – falls er nicht entlarvt wurde.
Während Hasard und seine Söhne versuchten, durch Plymmie auf eine brauchbare Fährte des Verbrechers zu stoßen, begaben sich der Kutscher und Mac Pellew im Geleit von Mustafa und der Palastwächter in den Behandlungsraum. Hier lag der tote Eunuch aufgebahrt.
Die verletzte Nabila krümmte sich stöhnend auf einer Liege, die sich fast unmittelbar neben der Bahre befand. Ein Mann im weißen Burnus redete leise auf die Frau ein. Seine Worte klangen wie Beschwörungsformeln.
Der Kutscher wandte sich betroffen an Mustafa. „Es geht nicht, daß die Frau im selben Raum mit dem Toten liegt. Lassen Sie die Leiche wegschaffen.“
„Ohne die Genehmigung des Leibarztes geht das nicht“, erwiderte Mustafa gedämpft. Er blickte bedeutungsvoll zu dem Burnusträger.
Der Kutscher trat auf den Leibarzt zu, gefolgt von Mustafa, Mac und den Wächtern. Mac plazierte die Kiste neben dem Lager der Verletzten.
„Fragen Sie den Mann, ob er die Frau untersucht hat“, forderte der Kutscher Mustafa auf.
Quabus bin Saids Berater richtete ein paar Worte an den Leibarzt. Dieser unterbrach seinen Sermon und blickte die Männer an, als habe er ihr Eintreten nicht bemerkt.
Er antwortete unwirsch und wollte sich wieder der Frau zuwenden, aber der Kutscher griff nach seinem Arm. Daraufhin stieß der Araber etwas aus, das wie ein Fluch klang.
„Sie ist schwer krank, sagt er“, erklärte Mustafa. „Es gibt keine Hilfe mehr für sie.“
„Das bezweifle ich“, widersprach der Kutscher.
„Soll ich das übersetzen?“
„Ja.
Mustafa tat seine Pflicht. Der Leibarzt stieß wütende, zischende Laute aus und richtete drohend und anklagend zugleich seinen Finger auf die Fremden, die er als Scharlatane und Giaurs, ungläubige Hunde, bezeichnete.
„Ich übernehme hier sofort die Leitung“, sagte der Kutscher. „Und ich trage die Verantwortung für das, was geschieht. Wenn der Mann es nicht einsehen oder gestatten will, muß man eben den Sultan rufen.“
Mac begann zu schwitzen.
„O Mann, das wird kritisch“, murmelte er.
Nabila wand sich auf ihrem Lager. Sie stieß klagende Laute aus und sagte etwas, das selbst Mustafa nur schwer zu verstehen schien.
„Sie sagt, sie stirbt“, erklärte er.
„Sag ihr, daß sie nicht sterben wird“, entgegnete der Kutscher. „Ich werde sie jetzt genau untersuchen. Dazu muß ich sie vollständig entkleiden. Dann versorge ich ihre Wunden, und wenn es erforderlich ist, operiere ich sie. Ich will, daß du ihr das auseinandersetzt.“
„Ja.“ Mustafa sprach auf die Verletzte ein. Nabilas Augen richteten sich auf den Kutscher. Zunächst war sie entsetzt. Sie wimmerte. Dann aber beruhigte sie sich zusehends. Sie nickte und murmelte etwas.
„Sie will, daß du ihr hilfst“, sagte Mustafa.
„Sehr gut.“ Der Kutscher öffnete seine Tasche. Er gab Mac ein Zeichen, und Mac – der immer noch schwitzte – hob den Deckel der Arzneikiste an. „Als erstes verabreiche ich ihr ein Mittel“, fuhr der Kutscher fort. „Gegen die Schmerzen. Danach wird sie sich etwas besser fühlen.“
Mustafa dolmetschte. Nabila seufzte und nickte wieder. Der Leibarzt zischte etwas, das sehr häßlich klang, und verließ entrüstet den Raum. Mustafa konnte ein leichtes Grinsen nicht unterdrücken. Er gab den Wächtern einen knappen Befehl, und zwei von ihnen trugen den Toten hinaus.
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