„Jetzt geht’s nach Norden, was, wie?“ fragte der Profos erstaunt.
„Ja, aber nur ein kurzes Stück. Dieser Kanal holt etwas nach Norden aus, schwenkt dann aber ganz plötzlich wieder südwärts.“
Der Narbenmann grinste über das ganze Gesicht.
„Da hätten wir ja tage- und wochenlang unseren Spaß gehabt“, gab er unumwunden zu. „Inzwischen wären wir glatt verhungert.“
„Das wäre sehr wahrscheinlich gewesen. Das Wasser ist kaum trinkbar, weil es meist Brackwasser ist. Ihr hättet ein paar Fische fangen können, die Vögel hättet ihr nicht gekriegt, denn die streichen sofort ab, wenn sie jemanden sehen.“
Das bestätigte sich kurze Zeit darauf. Aber sie hatten es ja selbst schon erlebt.
Bald darauf begann eine langgezogene Krümmung. Der kleine Kanal schwenkte nach Süden und mündete in einen See, in dem es eine kleinere Insel gab.
„Paßt jetzt auf“, sagte der Häuptling. „Gleich werden unsere Wächter in großen Scharen aufsteigen.“
Sie hatten den flachen See kaum erreicht, als auch schon wieder riesige Vogelschwärme hochflatterten. Da war ein Kreischen und ein Geschnatter und Krächzen zu hören, das über weite Entfernungen schallte. Eine Wolke von rosafarbenen Flamingos flatterte auf. Die Tiere rannten über das Wasser und erhoben sich verschreckt in die Luft.
Auf der Insel gab es Reiher, und die folgten augenblicklich dem Beispiel der Flamingos. Auch sie stiegen unter nervtötendem Gekreische und Krächzen auf.
Der Papagei, der auf Carberrys Schulter hockte, schrumpfte regelrecht zusammen, als das Kreischen begann.
Die Luft war brühwarm und stickig, und jeder sehnte sich insgeheim danach, wieder frischen Seewind zu spüren.
Zielstrebig glitt das große Kanu über den See. Die anderen folgten in Kiellinie. Jetzt lag Südostkurs an, wie der Profos nach einem Blick auf die Sonne feststellte. Die Reiherinsel blieb an Steuerbord zurück, und dann ging es wieder in eine kaum sichtbare Einfahrt hinein. Sie war so eng und schmal, daß die Kanus nur hintereinander fahren konnten.
Dieser Kanal war scheinbar fast zugewachsen. Er war von Mangrovenästen so überwuchert, daß sie sich alle bücken mußten.
„In den wären wir nicht hineingepaddelt“, sagte Hasard junior, „weil das von vornherein aussichtslos erschienen wäre.“
Die Männer wunderten sich nur noch, als es durch unzählige Windungen weiterging. Manchmal waren die Kanus achteraus nicht mehr zu sehen.
Es war wirklich kein Wunder, daß sie ständig in die Irre gepaddelt oder in toten Gewässern gelandet waren, wo sie immer wieder umkehren mußten.
Dieser Stamm der Arawaks hatte sich eine Siedlung geschaffen, die kein Fremder jemals erreichen würde.
Der Kutscher war fast ein bißchen neidisch auf dieses grandiose Versteck, aber für sie selbst hatte es den Nachteil, daß es nicht mit Dreimastern oder Karavellen zu befahren war. Auf diesen Bachläufen, Kanälen und Seen konnte man sich nur mit kleinen Booten bewegen.
Am frühen Nachmittag war die Reise beendet. Sie befanden sich jetzt auf jenem Creek, der nördlich der Sandbank, wo die „Empress“ aufsaß, in die North Bight mündete.
Als sie die Stelle erreicht hatten, stießen wie aus dem Nichts drei weitere Kanus zu ihnen.
„Diese Männer bewachen die Einfahrt in den Creek“, erklärte Coanabo. „Es ist die einzige Einfahrt, die unter vielen Umwegen zu unserem Dorf führt. Außerdem ist diese Einfahrt immer bewacht, und die Männer lösen sich regelmäßig ab. Ihr seht also, daß uns kein Fremder beehren kann, ohne daß wir es sofort erfahren.“
Die Männer nickten beeindruckt. Ihre Blicke richteten sich auf die „Empress“, die still und einsam auf der Sandbank ruhte.
„Das gute alte Stück“, murmelte Old O’Flynn. „Hoffentlich haben sich in der Zwischenzeit keine Chickcharnies eingenistet.“
„Und wenn, dann sind sie in die Rumbuddel gekrochen“, meinte der Profos grinsend.
Coanabo grinste ebenfalls ein bißchen. Er hatte schon mitgekriegt, daß dieser holzbeinige und kauzige Alte vor Geistern Furcht empfand und sehr abergläubisch war. Aber viele seiner Leute glaubten ja auch an die Chickcharnies und Flugdrachen, da konnte man es einem Fremden nicht verübeln, der zum erstenmal auf Andros war.
„Wenn ihr uns wieder besucht“, sagte Coanabo, „dann könnt ihr mit eurem Schiff etwa hundert metros in den Creek lavieren und dort hinter der Biegung ankern. Dann sieht niemand das Schiff.“
„Können wir von der North Bight bis zur Westseite der Insel durchsegeln?“ fragte der Kutscher.
„Ja, aber nur im mittleren Fahrwasser. Dann müßt ihr allerdings gut aufpassen, denn diese Strecke ist sehr tückisch und kann nur lotend durchquert werden. Ich werde euch das auf der Karte noch genauer zeigen und erklären.“
Die Kanus legten an. Die Mannen enterten auf, auch Coanabo und einige seiner Leute.
Der Kutscher holte die Karte, die sie hatten, auf der aber viele Untiefen und Tücken nicht eingezeichnet waren.
Diese Karte interessierte den Häuptling, und er beugte sich gespannt darüber, als der Kutscher sie ihm erklärte.
„Ja, ich finde mich schon zurecht“, sagte Coanabo. Sehr sorgfältig studierte er nochmals die Karte.
Der Kutscher holte Feder und Papier, denn das wollte er gleich und endgültig festlegen. Diese Karte war Gold wert denn sie hatten ja selbst erlebt wie schnell man hier aufbrummen konnte, auch ohne daß Old Donegal an der Buddel hing.
„Das und das hier“, sagte Coanabo, „sind ganz besonders gefährliche und tückische Stellen – hier um Andros herum, einschließlich der North, Middle und South Bight.“
Der Kutscher hatte die Zunge zwischen die Zähne geklemmt, die Feder ergriffen und machte sich eifrig Notizen. Sehr genau und sorgfältig zeichnete er alles auf, was Coanabo erklärte.
„Hier bei den Korallenriffen müßt ihr ganz besonders vorsichtig sein“, sagte er, wobei er auf eine Stelle der Karte zeigte, die der Kutscher ebenfalls gleich markierte.
„Diese Korallenriffe ziehen sich entlang der Ostküste von Süd-Andros. Von der Südspitze verlaufen sie viele Meilen weiter und setzen sich bis zu den Wolf Rocks fort. Wer hier strandet, ist verloren und hat keine Aussicht mehr, jemals freizukommen.“
„Ich habe alles notiert und aufgezeichnet“, sagte der Kutscher. „Ich danke dir für deine Hilfe, Coanabo.“
Der Häuptling nickte und deutete auf die „Empress“.
„Ihr habt unwahrscheinliches Glück gehabt, daß ihr nur auf einer Sandbank aufsitzt. Es hätte euch sonst mit Sicherheit an einer anderen Stelle erwischt, und da wäret ihr in die Korallen gelaufen, die so scharf sind, daß sie den Rumpf zerfetzt und aufgeschlitzt hätten.“
Old O’Flynn grinste ein bißchen. Das hörte er gern.
„Da war die Rumbuddel doch was wert“, meinte er schlitzohrig. „Wenn ich nicht daran genuckelt hätte, säßen wir jetzt in den Korallen, und mein schönes Schiffchen wäre ein Wrack.“
„Womit du wieder mal eine feine Ausrede hast“, sagte der Profos sarkastisch. „Old Donegal hat uns alle vor Schiffbruch bewahrt. Er ist wirklich ein einsamer Held.“
„Habe ich auch“, erklärte der Alte schlicht, „das ist schon so gut wie bewiesen. Ohne mich und die Rumbuddel würden wir mit Sicherheit als Leichen in der See treiben, und die Haie hätten uns längst gefressen und dicke Bäuche gekriegt.“
„Mit absoluter Sicherheit“, bestätigte der Profos. „Du hast ein sagenhaftes Talent, deine Dösigkeit in eine Heldentat umzufummeln, wobei du wieder mal den glorreichen Lebensretter gespielt hast.“
„Ich hol’ vorsichtshalber mal die Rumbuddel“, sagte Old O’Flynn eifrig. „Hauptsächlich, damit der Häuptling und seine Leute das Zeug mal kennenlernen.“
„Wir kennen Rum“, sagte Coanabo lächelnd.
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