»Regenpfeifer.«
»Bestätige: Neues Passwort Regenpfeifer.«
»Und sag bitte du zu mir, Litse.«
»Bestätige: Ich sage du zu Ihnen.«
»Zu dir.«
»Bestätige: Zu dir.«
»Kalibrierung beendet.« Xialong nickt zufrieden und wandte sich zu Kung herum, der die Prozedur wortlos beobachtet hatte. »Na?«, sagte sie nicht ohne Stolz.
»Was, na?«
»Litse kann sogar Humor.«
»Oh«, machte Kung. »Jetzt, wo du's sagst …«
Xialong schaltete den Rechner aus. Das Display erlosch und verschwand in der Tischplatte. Sie gingen den gleichen Weg zurück, den sie gekommen waren, doch diesmal waren sie zu dritt. Im Verkaufsraum winkte Xialong in einem Anflug von Übermut in die Überwachungskamera. Sie spürte Litse hinter sich wie eine alte Freundin, die sie immer schon begleitet hatte, und ganz falsch war das nicht, denn Litse war jetzt auf sie geprägt und würde sie niemals im Stich lassen. Sie war nicht mehr allein. Und in diesem von Ungewissheit zitternden Moment hoffte sie, dass auch sie eine Zukunft haben möge. Sie versuchte, sie sich vorzustellen, doch es gelang ihr nicht.
Der Himmel über Lhasa war tiefblau, die Luft glasklar, und der Schnee auf den Bergen leuchtete so grell, dass es den Augen wehtat. Die Hänge, Grate und Gipfel wirkten überwirklich und so nah, als reichte eine kleine Willensanstrengung aus, um sich den Vögeln gleich emporzuschwingen und zu den friedlichen Buddhas, den lächelnden Bodhisattvas, den zornigen Dharmapalas und den grimmigen Himmelskönigen zu fliegen, die sich nicht ohne Grund diesen Ort zur Heimat gewählt hatten. Aber so überirdisch schön der Tag auch war, lag doch eine lastende Stille über der sonst so geschäftigen Stadt. Die Werkstätten und Läden der Tibeter hatten geschlossen, auch viele ansässige Chinesen waren ihrem Beispiel gefolgt. Der Verkehr war fast zum Erliegen gekommen. Auf den Gehsteigen, in den Gassen und auf den Plätzen waren kaum Menschen unterwegs, und die wenigen, die einander begegneten, nickten einander zu, als wären sie Freunde, die ein bedrückendes Geheimnis miteinander teilten.
Es war, als wäre die ganze Bevölkerung der Stadt am Platz vor dem Potala-Palast zusammengeströmt, über dem wie Raubvögel die Drohnenfänger mit ihren Netzkanonen kreisten. In Wahrheit waren es nur einige Hundert, mehr Menschen hatten die eilig errichteten Straßensperren nicht überwinden können. Doch sie wirkten vervielfältigt in ihrem trauernden Schweigen, denn sie waren Stellvertreter all derer, die in diesem bewegenden Moment nicht zugegen sein konnten und doch auf eine geheimnisvolle, übernatürliche Weise anwesend waren.
Die siebzehnte Gebetsmühle hatte am fünfzehnten Tag aufgehört, sich zu drehen.
Der Kleine Mönch war tot.
Fünfzehn Glaubensbrüder in ziegelroten Gewändern knieten an der Absperrung am Rand des Platzes, intonierten Mantras, die zugleich aus dem Bauch der Erde und dem Himmelsäther zu kommen schienen. Mit geschlossenen Augen, die Hände auf die Oberschenkel gelegt, wippten sie zeitlupenhaft verlangsamt mit den Oberkörpern. Recht und links von ihnen standen zwei chinesische Polizisten mit geschultertem Gewehr, aufrecht, mit starrem Blick und einem Glitzern in den Augen, das vielleicht vom Wind kam, der in Böen von den Bergen herunterwehte, vielleicht aber auch nicht.
Ein kleiner rot-weiß lackierter Kranwagen bog von der Straße zum Platz ein. Zwei Soldaten trugen das Absperrgitter weg, dann fuhr der Wagen durch die Lücke, beschrieb einen Bogen, hielt an und setzte zu der Gebetsmühle mit dem Kleinen Mönch zurück. Der Fahrer, bekleidet mit einem blauen Arbeitsoverall, stieg aus, in der Hand eine Fernbedienung. Der Kranausleger schwenkte über die Gebetsmühle und verlängerte sich. An seinem Ende befand sich kein Haken, sondern eine Art Tülle. Plötzlich schoss ein Netz heraus, das die tönerne Walze vollständig umschloss und dessen Öffnung lose auf dem Boden auflag. Zwischen den Netzfäden war eine dünne, undurchsichtige Folie zu erkennen. Der Kranwagenfahrer richtete die Fernbedienung auf das Netz, worauf es sich langsam zusammenzog. Dann hob der Kran die Gebetsmühle mitsamt dem Sockel an. Einen Moment lang schwankte sie am Ausleger hin und her, dann wurde sie herumgeschwenkt und auf die Ladefläche abgesenkt.
Ein Aufstöhnen ging durch die Menge der Zuschauer. Als der Kranwagen abfuhr und hinter der Platzabsperrung auf die Straße einbog, wurde gerufen. Viele Menschen weinten. Bewegung entstand, zeitgleich an mehreren Orten – erst ein Wogen auf der Stelle, dann bekam es Richtung und entwickelte Kraft. Während die fünfzehn knienden Mönche unverdrossen weitersangen, drängte die Menge gegen die Absperrung vor. Die Polizisten und Soldaten lösten die Tränengasmasken vom Gürtel und setzten sie auf. Schüsse fielen. Sirenenlärm näherte sich.
Der Einsatzleiter, ein dünner Mann in einer zu weiten Uniform, hatte einen Auftrag. Die Einsatzregeln waren eindeutig. Er hob das Com an den runden Gasmaskenfilter: »Die Situation gerät außer Kontrolle.«
Es roch nach Angst. Sie war in den fleckigen Betonwänden aufgespeichert, im dunkel gebeizten Schreibtisch und vor allem in dem Stuhl, auf dem er saß. Durch die harte Sitzfläche mit den schmerzhaften Wulsten am Rand sickerte sie in ihn ein und füllte ihn aus, bis er kaum mehr Luft bekam.
Vor ihm hatten schon viele hier gesessen wie er, hatten sich gefragt, weshalb sie hier waren und was sie erwartete. Er hatte sich doch nichts zuschulden kommen lassen. Er war ein alter Mann, an dem das Leben längst vorbeigezogen war. Er hatte sich abgefunden mit dem Tod seiner Frau und der Verpflanzung in die Glückliche Familie . Er hatte seinen Frieden gemacht mit der Welt – auch wenn ihn das nicht davon abhielt, sich Gedanken zu machen, denn wozu war der Kopf denn sonst da? Aber er behielt die Gedanken für sich, und das war das Entscheidende. Er redete nicht über Politik. Er tat niemandem etwas zuleide. Er war ein alter Mann, und er wusste nicht, weshalb man ihn zu dieser kleinen Nachbarschaftswache gebracht hatte. Er wusste nur, dass sie nicht für ihn zuständig war. Für das Viertel, in dem er wohnte, war die Wache in der Seepferdchenstraße zuständig. Das deutete vielleicht darauf hin, dass es sich um einen Irrtum handelte, dass man ihn mit jemand anderem verwechselt hatte. Dieser Gedanke machte ihm ein bisschen Hoffnung.
Hinter ihm ging die Tür auf, jemand trat ein. Die Tür wurde von außen geschlossen. Nach kurzem Innehalten trat ein Mann in einem dunklen Anzug um den Schreibtisch herum. Das Sakko spannte über seinem Bauch, sein rundes, pausbäckiges Gesicht schimmerte matt vor Gesundheit, unter seiner voluminösen AR-Brille funkelten kleine Äuglein hervor. Er legte einen kleinen Koffer auf den Schreibtisch und klappte ihn auf. An der Innenseite des Deckels befanden sich ein Display und mehrere Drehregler.
»Ich bin Chen Ren«, sagte er. »Und Sie nennt man Onkel Wu?«
Onkel Wu nickte.
»Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen«, sagte der Mann im Anzug. Er fühlte sich sichtlich unwohl im Verhörraum. Er war eindeutig kein Polizist, sondern wirkte eher wie ein Verkäufer oder wie ein billiger Anwalt. Onkel Wu beobachtete voll Argwohn, wie Chen Ren etwas aus dem Koffer nahm, das einer großen, labbrigen Badehaube glich. An der einen Seite hatte sie mehrere spitz zulaufende Fortsätze, wie eine stachlige Frucht.
»Keine Sorge«, sagte Chen Ren, der Onkel Wus Blick bemerkt hatte. »Das dient nur der Überprüfung Ihrer Angaben. Es tut nicht weh, Sie werden kaum etwas davon bemerken.« Er trat neben Onkel Wu und setzte ihm die Haube auf, mit den Stacheln nach innen. Onkel Wu, der sich unwillkürlich gegen den erwarteten Schmerz gewappnet hatte, stellte zu seiner Erleichterung fest, dass die Stacheln weich waren. Es waren … wie hieß das Wort noch gleich … Noppen . Es war beruhigend, dass ihm das Wort eingefallen war. Er hatte doch nichts getan. Er war doch unschuldig.
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