1 ...8 9 10 12 13 14 ...26 »Ich gehe lieber selbst«, hauchte er.
Vorsichtig stand er auf.
»Sehr gut«, lobte sie seine diesmal sicheren Gehversuche. »Wie ich sehe, können wir schon heute mit dem Lauftraining beginnen. Ich dachte, ich müsste Sie noch schonen. Aber das können wir getrost vergessen.«
Im Badezimmer grummelte Anthony etwas Unverständliches vor sich hin, allerdings erst, nachdem er die Tür fest zugedrückt hatte. Wenigstens lag alles parat: eine verpackte Zahnbürste, Zahnpasta, Seife, Haarwaschmittel, Handtücher. Ein Hoch auf die Privatversicherung! Erstmals seit langem betrachtete er sich im Spiegel. Die Narbe unter seinem Haaransatz würde wohl ein bleibendes Andenken an die behandelnde Ärztin darstellen, auch wenn sie mit der Zeit gewiss kleiner werden würde. Er stieg in eine enge Duschkabine und ließ warmes Wasser auf sich einrieseln. Es tat unbeschreiblich gut. Seit zweieinhalb Tagen hatte er (fast) ohne Unterbrechung im Bett gelegen.
»Kleidung und Sportschuhe in Ihrer Größe finden Sie im Schrank. Ziehen Sie einen Jogginganzug an!«, hörte er sie von draußen rufen.
Im Moment interessierte ihn nur das warme Nass auf seiner Haut. Sie sollte ihm bloß gestohlen bleiben. Hier war er sicher. Schließlich würde sie nicht … Plötzlich beeilte er sich mit dem Duschen. Er streifte sich seine neue ›Sträflingskleidung‹ über und ging aus dem Bad. Miss Folder erwartete ihn mit sichtlicher Ungeduld.
»Da sind Sie ja endlich. Beinahe hätte ich nachgesehen, ob alles im Lot ist.«
Sie begutachtete ihn in seinem gelben Jogginganzug. Sie schüttelte das Haupt.
»Gelb steht Ihnen nicht«, urteilte sie.
Anthony war nicht in Stimmung für modische Ratschläge. Er trug das Teil doch nur ihretwegen.
»Muss ich jetzt einen Marathon laufen?«, fragte er spitz.
Abermals hatte er sich zu einem zynischen Ausrutscher verleiten lassen. Wohin würde ihn das bei dieser Frau noch führen?
»Nein«, fauchte sie prompt. »Zuerst gehen Sie schwimmen. Das wird Ihren Kreislauf in Schwung bringen. Danach wird Marathon gelaufen.«
Er schluckte.
»Ich habe aber keine Badehose dabei«, wandte er ein.
Honigsüß grinsend reichte sie ihm eine. »Die habe ich gestern für Sie gekauft.«
»Das wäre aber nicht nötig gewesen«, presste er durch die Zähne.
»Gern geschehen«, erwiderte sie mit blumiger Stimme, die sogleich in den Befehlston zurückfiel:
»Sie gehen jetzt mit mir in den Flur. Ich muss im Büro nur kurz den Bademeister anrufen, damit er eine Bahn für Sie freihält. Währenddessen warten Sie vor Ihrer Zimmertüre auf mich und halten Ihre Hände hinter dem Rücken verschränkt.«
Er sah sie vollkommen entgeistert an.
»Warum soll ich denn die Hände hinter dem Rücken kreuzen?«
»Weil ich es so will. Und jetzt ab marsch!«
Sie wies ihm die Tür. Sein Verstand riet ihm, lieber zu gehorchen, obgleich sein Unterbewusstsein Alarm und sein Ego Widerspruch schrien. Aber er durfte es sich nicht vollends mit Miss Folder verderben. Er wollte sie unbedingt für seinen Film gewinnen.
Im Flur angelangt, stellte er sich tatsächlich vor seinem Zimmer auf. Auch verschränkte er die Arme hinter dem Rücken. Miss Folder trat einen Schritt zurück und musterte ihn von oben bis unten.
»So gefallen Sie mir«, verkündete sie – das scheußliche Gelb störte sie also nicht mehr. »Bin gleich wieder da. Sollten Sie die Hände nicht mehr hinter dem Rücken haben, lernen Sie mich kennen.«
Sie verschwand. Anthony war überrascht. Dann erst würde er sie kennenlernen? Wenn ihr bisheriges Verhalten also von Nachsicht zeugte, wollte er gar nicht darüber nachdenken, was diese Frau veranstaltete, wenn man sie »kennenlernte«. In diesem Fall in ihrer Nähe zu sein, wäre gewiss kein Zuckerschlecken, so anziehend sie auf eine andere Weise auch war, besonders wenn Wut in ihren Augen aufblitzte. Ein Schauder fuhr durch seinen gesamten Körper.
Das Publikum im Flur – humpelnde Patienten und selbsternannte Götter in Weiß – sah ihn recht befremdet an, wie er dastand, als hätte ihm jemand imaginäre Fesseln angelegt. Ein Grüppchen Krankenschwestern kicherte wild drauflos. Natürlich musste der Chefarzt die Station entlangstolzieren. Ihm blieb auch nichts erspart! Partenes bedachte ihn mit einem erstaunten Stirnrunzeln, unterließ aber einen Kommentar. Am liebsten wäre Anthony im Boden versunken.
Er schaute auf die flackernden Neonröhren unter der Decke, die vergilbte Tapete, den giftgrünen Teppich. Obwohl er nie zuvor im Hollywood Community Hospital gewesen war, sagte ihm die klinische Umgebung etwas: Grauen, Entsetzen, eine furchtbare und sorgsam weggesperrte Erinnerung. Nun kroch sie wieder aus ihrer Höhle. Erneut ließ er den Blick über den Flur schweifen. Ja, so ähnlich hatte es in jenem Krankenhaus ausgesehen, wo er vor eineinhalb Jahrzehnten mit seiner Ex gewesen war. Damals waren sie jung und sehr verliebt, aber verheiratet. Sie wollte unbedingt ein Kind. Er hatte ihr erklärt, nichts gegen die Zeugung zu haben. Nur der Rest bereite ihm Sorgen. Er fühlte sich noch nicht reif für so viel Verantwortung. Irgendwann wurde seine damalige Frau doch schwanger. Trotz seiner Bedenken kam eine Abtreibung für ihn ebenso wenig in Betracht wie für sie. Viel zu früh setzten die Wehen ein. Kurz darauf verloren sie ihr Kind. Er wird nie vergessen, wie sich seine Ex in Tränen auflöste. Verzweifelt hatte er versucht, sie zu trösten, ihr zu versichern, dass seine Trauer nicht geringer war als ihre. Das entsprach der Wahrheit. Seit er von ihrer Schwangerschaft wusste, wollte er das Kind. Bis zum Zerbrechen der Ehe dauerte es nicht lange. Fraglos hatte der Verlust ihres Babys dazu beigetragen. Aber beide trennte noch vieles andere. Sie fanden nicht mehr zueinander. Bald begegneten sie sich nur noch in Hass und Streit. Sein Zynismus verhärtete sich, ihre Unzufriedenheit wuchs. Begonnen hatte das Unglück in einer Klinik; ähnlich wie diese hier. Aber vermutlich war das Scheitern seiner Ehe bereits vorher gesät worden, an dem Tag, als sie sich das Jawort gaben. Sie gehörten einfach nicht zusammen. Nichtsdestoweniger nagte der Tod seines Kindes bis heute an ihm, so gut er es auch vermocht hatte, ihn aus seinem Gedächtnis zu tilgen. Das war ihm mit einer Überdosis Sarkasmus gelungen. Außer seiner Karriere kam nichts mehr so nah an ihn heran wie jener Schmerz. Wenn er wieder heiraten würde – was völlig ausgeschlossen war – wüsste er freilich nicht, ob er ein Kind wollte. Eine neue Fehlgeburt könnte er kaum verkraften. Ihm blieb nichts als seine Arbeit. Nur ihretwegen spielte er das Spiel dieser tyrannischen Ärztin mit. Sie sollte seine Kleopatra werden, verdammt nochmal!
»Ich sehe, Sie haben meine Anweisung befolgt.«
Verblüfft hob er den Kopf. Kaum hatte er an Miss Folder gedacht, stand sie wieder vor ihm, fast so, als hätte er sie herzitiert. Aber das war laut ihrer eigenen Aussage unmöglich.
Zwanzig Minuten später zog Anthony, nur mit einer albern gestreiften Badehose bekleidet, in der klinikeigenen Schwimmhalle die ihm verordneten Bahnen. Miss Folder stand am Beckenrand und hielt ihren Block vor den Brustkorb geklemmt. Natürlich kommandierte sie ihn herum. Wenn er nicht so spurte, wie sie wollte, blies sie kräftig in die Trillerpfeife. Die gab einen derart schrillen Ton von sich, dass sich seine Anstrengungen ganz automatisch intensivierten. Brustschwimmen, Kraulen, Rückenlage und keine Pause. Doch irgendwann war er zu erschöpft. Keuchend hielt er sich am Beckenrand fest und spuckte gechlortes Wasser.
»Bitte, ich kann nicht mehr«, prustete er. »Ich brauche eine Pause. Haben Sie doch Gnade mit mir, Miss Folder. Bitte!«
Vom Beckenrand aus sah er zunächst nur ihre Füße vor sich. Er schaute zu ihr auf. Sie ging in die Hocke. Ihr Blick war ungewöhnlich milde, sie ließ sogar von der Pfeife ab. Ganz sanft redete sie zu ihm:
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