Neben den bereits angeführten Rauschmitteln ist es auch die Religion, der im menschlichen Leben die Funktion zukommen kann, Leid zu lindern. An dieser Stelle lohnt es sich, zwei Aussagen Freuds über die Religion („die Religionen der Menschheit“) im Originalwortlaut zu rezipieren:
Eine besondere Bedeutung beansprucht der Fall, daß eine größere Anzahl von Menschen gemeinsam den Versuch unternimmt, sich Glücksversicherung und Leidensschutz durch wahnhafte Umbildung der Wirklichkeit zu schaffen. Als solchen Massenwahn müssen wir auch die Religionen der Menschheit kennzeichnen. Den Wahn erkennt natürlich niemals, wer ihn selbst noch teilt. (Freud 2007: 48)
Wer dann in späterer Lebenszeit seine Bemühungen um das Glück vereitelt sieht, findet noch Trost im Lustgewinn der chronischen Intoxikation, oder er unternimmt den verzweifelten Auflehnungsversuch der Psychose.
Die Religion beeinträchtigt dieses Spiel der Auswahl und Anpassung, indem sie ihren Weg zum Glückserwerb und Leidensschutz allen in gleicher Weise aufdrängt. Ihre Technik besteht darin, den Wert des Lebens herabzudrücken und das Bild der realen Welt wahnhaft zu entstellen, was die Einschüchterung der Intelligenz zur Voraussetzung hat. Um diesen Preis, durch gewaltsame Fixierung eines psychischen Infantilismus und Einbeziehung in einen Massenwahn gelingt es der Religion, vielen Menschen die individuelle Neurose zu ersparen. (Freud 2007: 51)
Es ließe sich einwenden, dass solche grundsätzlichen Überlegungen, noch dazu aus dem Jahr 1930, wenig bis keine Relevanz für die heutige Arbeit von DolmetscherInnen in der Psychotherapie haben können. Bei näherer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass die Religion, die im derzeitigen medialen und tagespolitischen Diskurs hauptsächlich im Zusammenhang mit dem Thema Terrorismus diskutiert wird (Stichwort: „Islamismus“), im psychotherapeutischen Kontext einen anderen Stellenwert genießt, nämlich als eine Ressource, die das Potenzial hat, „vielen Menschen die individuelle Neurose zu ersparen“ (s.o.). Es ist nicht unwichtig für DolmetscherInnen in der Psychotherapie, sich Gedanken über die Funktion der Religion unter dem Gesichtspunkt der individuellen Leidbewältigung zu machen, um von oberflächlichen und/oder politisierten Bewertungen der Religionszugehörigkeit bzw. der Religiosität von KlientInnen abzusehen bzw. solche eigenen Bewertungen kritisch zu hinterfragen. Je besser DolmetscherInnen den radikal individuellen Zugang zum seelischen Leid des Klienten in der Psychotherapie nachvollziehen können, desto leichter fällt es ihnen, im Einklang mit den Zielvorstellungen und Abläufen einer Psychotherapie zu agieren. Nicht zu unterschätzen sind nämlich die Auswirkungen eigener Widerstände und Ressentiments auf die Dolmetschleistung, daher stellt eine laufende Reflexion der eigenen Einstellungen (auch der politischen) für DolmetscherInnen in der Psychotherapie eine Notwendigkeit dar.
Weitere Themen, die Freud in dieser bahnbrechenden kulturtheoretischen Schrift diskutiert, sind die Unverzichtbarkeit und Unerfüllbarkeit des Lustprinzips, der Gegensatz von Kultur und individueller Freiheit, die Bildung größerer sozialer Gemeinschaften, in denen Arbeitsteilung und gegenseitige Abhängigkeit herrschen, sowie die Unterdrückung der Aggression, beziehungsweise die Verwendung unterdrückter Aggression zum Aufbau der Kultur durch die Umwandlung der Aggressionslust in Schuldbewusstsein. Das Zusammenspiel dieser und anderer, hier nicht genannter Komponenten sorgen für ein „Unbehagen in der Kultur“, mit dem das Individuum („eine Art Prothesengott“, Freud 2007: 57) den Preis für die Annehmlichkeiten des Lebens in einer „zivilisierten“ Gesellschaft bezahlt.
In einer anderen Schrift, die im Kontext der transkulturellen Psychotherapie mit Kriegsüberlebenden ebenfalls nicht unerwähnt bleiben soll, beschäftigt sich Freud mit der Frage, warum die Menschheitsgeschichte von Kriegen geprägt ist. Bei dieser im Jahr 1932 erschienen Schrift mit dem Titel „Warum Krieg?“ handelt es sich um einen Brief, in dem Freud den Versuch unternimmt, Antworten auf eine Frage seines Zeitgenossen, des Physikers Albert Einstein zu finden: „Sie haben mich dann durch die Fragestellung überrascht, was man tun könne, um das Verhängnis des Krieges von den Menschen abzuwehren.“ (Freud 2007: 165). Freud stellt fest, dass Interessenskonflikte unter den Menschen prinzipiell durch die Anwendung von Gewalt entschieden werden, was im Übrigen auch für das Tierreich gilt, wobei bei den Menschen noch die Meinungskonflikte hinzukommen, die einen hohen Grad der Abstraktion erreichen können. Die Gewalt wird gebrochen, indem die Gemeinschaft durch einen Zusammenschluss das gemeinsame Recht etabliert, sodass nicht mehr die Gewalt eines einzelnen sich durchsetzt, sondern die der Gemeinschaft. Die Macht wird also an eine größere Einheit übertragen. Dennoch währt der Friede nie lange, und es werden Konflikte zwischen „Stadtgebieten, Landschaften, Stämmen, Völkern und Reichen“ fast immer „durch die Kraftprobe des Krieges entschieden“ (2007: 169), was zu Beraubung, voller Unterwerfung oder Eroberung des einen Teils führt.
Um dieses Phänomen zu erklären, führt Freud die Triebe des Menschen ins Treffen, die „nur von zweierlei Art sind, entweder solche, die erhalten und vereinigen wollen – wir heißen sie erotische, ganz im Sinne des Eros im Symposion Platos (…) – und andere, die zerstören und töten wollen; wir fassen diese als Aggressionstrieb oder Destruktionstrieb zusammen.“ (2007: 171). Freud enthält sich jedoch einer Wertung von Gut und Böse und postuliert: „Der eine dieser Triebe ist ebenso unerläßlich wie der andere, aus dem Zusammen- und Gegeneinanderwirken der beiden gehen die Erscheinungen des Lebens hervor.“ Utopischen Vorstellungen eines friedlichen, aggressionsfreien Zusammenlebens von Menschen, sei es in simplen Gesellschaftsformen als Naturvölker oder in ideologischen, beispielsweise bolschewistischen Zusammenhängen, erteilt Freud eine klare Absage und spricht in diesen Fällen von Illusionen. Es könne nicht darum gehen, die menschliche Aggressionsneigung völlig zu beseitigen, sondern man könne nur versuchen, sie so weit abzulenken, dass sie nicht ihren Ausdruck im Kriege finden müsse.
Freud formuliert an einigen Stellen prägnant seine Überlegungen zum Krieg, die an Aktualität nichts eingebüßt haben, und es erscheint sinnvoll, diese Abschnitte ebenfalls im Originalwortlaut wiederzugeben, angesichts des Umstands, dass in der vorliegenden Arbeit mit kriegstraumatisierten Menschen sowohl den PsychotherapeutInnen als auch den DolmetscherInnen eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Krieges nicht erspart bleibt und Freuds einschlägige Überlegungen eine wertvolle Kontextualisierung bieten, zumal jegliches Arbeit mit Flüchtlingen eine grundsätzlich pazifistische Weltanschauung voraussetzt, oder jedenfalls eine Haltung, die sich der Kriegslogik, die manchen Menschen auf Grund ihrer Zugehörigkeit zu einer Gruppe das Existenzrecht abspricht, widersetzt.
Warum empören wir uns so sehr gegen den Krieg, Sie und ich und so viele andere, warum nehmen wir ihn nicht hin wie eine andere der vielen peinlichen Notlagen des Lebens? Er scheint doch naturgemäß, biologisch wohlbegründet, praktisch kaum vermeidbar. Entsetzen Sie sich nicht über meine Fragestellung. (…) Die Antwort wird lauten, weil jeder Mensch ein Recht auf sein eigenes Leben hat, weil der Krieg hoffnungsvolle Menschenleben vernichtet, den einzelnen Menschen in Lagen bringt, die ihn entwürdigen, ihn zwingt, andere zu morden, was er nicht will, kostbare materielle Werte, Ergebnis von Menschenarbeit, zerstört und anderes mehr. Auch daß der Krieg in seiner gegenwärtigen Gestaltung keine Gelegenheit mehr gibt, das alte heldische Ideal zu erfüllen, und daß ein zukünftiger Krieg infolge der Vervollkommnung der Zerstörungsmittel die Ausrottung eines oder vielleicht beider Gegner bedeuten würde. (Freud 2007: 175)
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