Quim Monzó
HUNDERT GESCHICHTEN
Aus dem Katalanischen von Monika Lübcke
Die Originalausgabe erschien
unter dem Titel Vuitanta-sis contes
© 1999 by Joaquim Monzó
© 1999 by Quaderns Crema, Barcelona
und wurde für die vorliegende Ausgabe erweitert um
El millor dels mons (Die beste aller Welten)
© 2001 by Joaquim Monzó
© 2001 by Quaderns Crema, Barcelona
1. Auflage 2007
Deutsche Erstausgabe
© der deutschen Ausgabe
Frankfurter Verlagsanstalt GmbH, Frankfurt am Main 2007
Alle Rechte vorbehalten
Die Übersetzung und Überarbeitung dieses Werkes wurde aus
Mitteln des Instituts Ramon Llull gefördert
Herstellung und Schutzumschlaggestaltung: Laura J Gerlach
unter Verwendung eines Umschlagentwurfs von Jonathan Meese
eISBN: 978-3-6270-2146-7
Uff, sagte er
Uf, va dir ell
Geschichte einer Liebe
In einer weit zurückliegenden Zeit
Über das Nichterscheinen zu Verabredungen
Uff, sagte er
Über die Wankelmütigkeit des menschlichen Geistes
Platssschh
Rauch
Die Augen voller Wiesen
Underworld
Die Schöpfung
Über die Nichtigkeit menschlicher Wünsche
Frau mit Mehari
Vertrauliches
Olivetti, Moulinex, Chaffoteaux et Maury
Olivetti, Moulinex, Chaffoteaux et Maury
Der Aufsatz
Thomson, Braun, Corberó, Philishave
Apfelpfirsich
Die Lachsdame
Kakophonie
Globus
Der Norden des Südens
Tricks
Matruschkas
To choose
Der Brief
Vier Viertelstunden
Ein Kino
Das Pflanzenreich
Oldeberkoop
Die Aktentasche
L’illa de Maians
Die Aktentasche
Barcelona
Haus mit Garten
Philologie
Fieber
Ich habe nichts zum Anziehen
Eisenbahn
Das Mobiliar als Menschenfreund
Ländliche Literatur
Mundgeruch
Tafelspitz mit Meerrettich
Seien Sie sich da nicht so sicher
Anisschnaps
Die Qualität und die Quantität
Der Grund der Dinge
El perquè de tot plegat
Die Ethik
Die Liebe
Eheleben
Die Unterwerfung
Der Monatszyklus
Der Realitätsverlust
Der Glaube
Pygmalion
Das Opfer
Die Vernunft
Der Entschluss
Die Bewunderung
Warum dreht sich der Uhrzeiger im Uhrzeigersinn?
Die Eifersucht
Das Herz auf der Hand
Die Unbeständigkeit
Valentinstag
Die Euphorie der Trojaner
Gegen halb eins
Das Streben nach Höherem
Der Eid des Hippokrates
Der Pilzkenner
Die Kröte
Schneewittchen
Die Monarchie
Die Fauna
Die Willenskraft
Die Physiognomie
Die göttliche Vorsehung
Die Erzählung
Guadalajara
Guadalajara
1 Familienleben
2 Vor den Toren Trojas
Die helvetischen Freiheiten
Gregor
Hunger und Durst nach Gerechtigkeit
3 Ein Tag wie jeder andere
Das Leben ist so kurz
Die Macht des Wortes
Die Literatur
4 Die Zentripetalkraft
5 Strategien
Prophetenleben
Im Krieg
Die Bücher
Die beste aller Welten
El millor dels mons
1 Mein Bruder
Mutti
Sommerferien
Die fünf Türkeile
Beim Geschirrspülen
Zwei Rosensträuße
Die Beständigkeit des Lebens
2 Vor dem König von Schweden
3 Nach der Schulung
Als die Frau die Tür öffnet
Der Junge, der sterben musste
Der Spiegel
Das Mädchen mit den Schwefelhölzern
Der Unfall
Uff, sagte er
Un jour il y aura autre chose que le jour.
BORIS VIAN, Je voudrais pas crever
Von Angesicht zu Angesicht, wusstest du nie, ob es ein Kuss war oder nur ein Lächeln.
JORDI SARSANEDAS, Mythen
Für Joan Brossa, der mir die Idee dazu gab.
Mit allem, was bisher geschah, wäre ich zufrieden, nur um noch einmal den peppermintfarbenen Himmel und die funkelnden Sterne in ihren Augen zu sehen. Doch so es mir vergönnt sein sollte, möchte ich dieses Mal endlich zum Ende kommen. Ich bin es nämlich langsam leid, was irgendwie erstaunlich ist, wenn man bedenkt, dass ich ein sehr geduldiger Mann bin. Dies ist indes wirklich eine uralte Geschichte, deren Anfänge in meiner Jugend liegen, als ich sie eines Morgens in der Dämmerung zärtlich küsste. Wir saßen in einem gemieteten Landauer, den der Kutscher neben dem Lichtkegel einer noch brennenden Straßenlaterne vor dem neoklassizistischen (einem spätneoklassizistischen) Gutshaus abgestellt hatte, in dem wir uns ganz und ungestört unserer Liebe hingeben wollten. Sie glich einer nordischen Göttin, zart wie der Flug des Wiedehopfs, zerbrechlich, sanft und spitzbübisch. Ich erzähle das auf die Gefahr hin, lächerlich zu wirken, aber es handelt sich hier um die leidenschaftliche Geschichte einer glühenden Liebe, die mit jedem Mal stärker in uns brannte. Wir betraten das Gutshaus, das einer meiner Tanten gehörte, die halb verrückt und kurzsichtig war und mehr aus dunklen als aus heroischen Gründen ins Exil gehen musste, und stürmten hastig die Treppen hinauf, wie vermutlich alle Verliebten, die ihre gegenseitig eingestandene Anbetung wolllüstig befriedigen wollen. Wir durchquerten Flure und Zimmer und weitere Flure und Säle, die sich zu noch mehr Fluren hin öffneten. Wir machten Türen auf, hinter denen sich neue Räume mit Türen verbargen, dahinter Gemächer mit weiteren Türen (bei einer, die sich nicht öffnen ließ, mussten wir erst das verrostete Schloss aufbrechen), die zu Räumlichkeiten mit neuen Türen führten. Ich fasse mich kurz: Schließlich erreichten wir das größte Gemach mit einem breiten Himmelbett und Wänden aus extravagantem Damast. Als wir voller Sehnsucht nach dem Mondlicht die Vorhänge aufzogen, wurden wir von einer Staubwolke eingehüllt. Wir öffneten die Tür zum Balkon. Am Himmel zeichneten sich die Berge ab (in Farbtönen, die mit dem Emporsteigen des Tages immer mehr denen Boticellis glichen) und von den Wiesen drang ein gedämpftes sommerliches Rauschen herauf (unter anderem deshalb, weil all dies im Sommer geschah). Ich musste sie langsam entkleiden (sie, umständlich und aufgeregt wie ich war, von zwei Röcken, den Unterröcken, dem Reifrock, dem Korsett, den Strümpfen, den Schuhen und allen Diademen befreien, die sie auf dem Kopf trug), bis ich endlich ihren milchweißen Körper betrachten konnte. Sie schlug die Wimpern nieder, schwarz und groß wie Fächer, und sie wäre sicher errötet, doch aufgrund ihrer Schminke hätte man es nicht sehen können, und es wäre somit eine unnötige Anstrengung gewesen. Auf ihren jugendlichen Brüsten prangten dunkle Brustwarzen. Wie es sich für eine Dame aus solch gehobener Gesellschaftsschicht gehört, ließ sie alles mit einer durchaus angemessenen Gleichgültigkeit geschehen und, als ich mich schließlich hastig entkleidete, wendete sie schamhaft ihren Blick ab. Am meisten hatte ich mit den Stiefeln zu kämpfen, vor allem, weil ich in der Eile die Schnürsenkel nicht löste, sondern sie nur noch mehr verhedderte. Da ich nicht fertig wurde, nutzte sie die Zeit und erkundigte sich nach der Toilette.
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