Die Freunde, Familien- und Heimatersatz des mehrfach ins Exil getriebenen, ziehen sich wie ein roter Faden durch die autobiographischen Texte. Morgenstern schildert sein Leben im Spiegel der Freunde. Er stellt weniger sich und sein eigenes Erleben in den Mittelpunkt als vielmehr das seiner Freunde, allen voran das Joseph Roths und Alban Bergs. Da sich Morgensterns engster Freundeskreis überwiegend aus der Literatur-, Musik-, und Kunstszene rekrutierte, sind seine Aufzeichnungen zugleich ein lebendiges kulturgeschichtliches Zeugnis ihrer Zeit, es sind Erinnerungen eines »Zeuge[n] und Teilnehmer[s] an den stürmischen Ereignissen einer kataklysmischen Epoche«.
Im Zentrum der Studie steht neben der Erschließung der Texte für die Wissenschaft vor allem die Klassifizierung der literarischen Verfahrensweisen, derer sich Morgenstern in seinen autobiographischen Schriften bedient. Das Spektrum der literarischen Methoden ist hierbei ebenso breit gefächert wie die historischen, biographischen und autobiographischen Bezüge. Die Texte oszillieren zwischen Biographie und Autobiographie, zwischen Generationenbild und Zeitdokument.
1. »Freundschaft heißt, gemeinsam einen Sack voll Salz aufessen« 2– Soma Morgenstern und sein Leben mit Freunden
Als der aus Ostgalizien stammende Journalist und Schriftsteller Soma Morgenstern im Jahr 1976 sechsundachtzigjährig in New York starb, war sein Name dies- und jenseits des Ozeans so gut wie unbekannt. Sein schriftstellerisches Œuvre war nur in Teilen ediert, und auch diese wenigen Werke hatten kaum internationale Beachtung gefunden. 3In seinem Nachlaß fand sich eine Vielzahl unveröffentlichter und zum Teil druckfertiger Manuskripte, die erst im Rahmen einer neuen Werkausgabe, die zwischen 1994 und 2001 im zu Klampen Verlag erschienen ist, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Es stellt sich hier die Frage, warum Soma Morgenstern und sein nicht gerade unbeträchtliches publizistisches und schriftstellerisches Werk – die Werkausgabe umfaßt elf Bände – bis heute in Deutschland und Österreich noch nahezu unbekannt sind? Selbst in den USA, wo Morgenstern die letzten fünfunddreißig Jahre seines Lebens verbrachte und einen Großteil seiner Werke verfaßte, ist es um seine Bekanntheit nicht wesentlich besser bestellt.
Morgensterns Schicksal ist kein Einzelfall. Er zählt zu der großen Schar von Journalisten und Schriftstellern, die nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933 zunächst ihre Anstellung und dann ihre Heimat verloren. Der in Wien lebende Morgenstern verließ Österreich nach dem sogenannten Anschluß des Landes an das Deutsche Reich im März 1938. Wie viele ging er ins Exil, zuerst nach Frankreich, dann in die USA und kehrte nie wieder nach Europa zurück. Morgenstern war in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts als Feuilletonkorrespondent der Frankfurter Zeitung zunächst in Berlin, später in Wien tätig. Nach ersten Versuchen als Dramatiker wandte er sich Anfang der dreißiger Jahre gänzlich der Schriftstellerei zu. Sein erster Roman Der Sohn des verlorenen Sohnes , der den Auftakt zu einer Roman-Trilogie bildet, war im Jahr 1934 im Manuskript abgeschlossen, doch die sich überschlagenden politischen Ereignisse erschwerten sowohl die schriftstellerische Arbeit als auch eine Veröffentlichung des Werkes. Morgenstern mußte emigrieren, bevor er sich im deutschsprachigen Raum einen Namen als Schriftsteller hatte machen können. Sein erster Roman konnte 1935 zwar noch in Deutschland im Berliner Erich Reiss Verlag erscheinen, durfte jedoch nur an Juden verkauft werden. Im Jahr 1938 ging Morgenstern endgültig ins Exil nach Paris. Dort setzte er die Arbeit an den Fortsetzungsbänden der Roman-Trilogie fort, doch der Beginn des Zweiten Weltkriegs verhinderte die Vollendung und Veröffentlichung der Werke. Darüber hinaus gingen sämtliche Manuskripte auf der Flucht durch das besetzte Frankreich im Sommer 1940 verloren. Barbara Mauersberg faßt Morgensterns Situation in ihrer Rezension von dessen Erinnerungen an den langjährigen Freund Joseph Roth, Joseph Roths Flucht und Ende , mit folgenden Worten zusammen: »Der Erste Weltkrieg raubte ihm die Jugend, der Zweite die Heimat und die Nachkriegszeit brachte ihn um jede literarische Wirkung.« 4
Barbara Mauersbergs Satz trifft auf eine Vielzahl sogenannter Exil-Autoren zu. Vielen Zeitgenossen Morgensterns erging es ähnlich. Hitlers Diktatur machte es regimekritischen und vor allem jüdischen Autoren – beides trifft auf Morgenstern zu – nahezu unmöglich, als Schriftsteller Fuß zu fassen, von der Veröffentlichung und Verbreitung ihrer Werke ganz abgesehen. Wer nicht bereits vor Hitlers Machtübernahme im Jahr 1933 seinen Ruf als Schriftsteller hatte festigen und es zu internationaler Bekanntheit hatte bringen können, wie zum Beispiel Stefan Zweig oder Lion Feuchtwanger, der wurde nach 1933 nahezu sämtlicher Publikationsmöglichkeiten beraubt. Und auch nach dem Krieg, im amerikanischen Exil, war Morgenstern, der zeit seines Lebens in deutscher Sprache schrieb, kein Erfolg als Schriftsteller beschieden. Zwar erschienen in den USA noch einige seiner Romane in englischen Übersetzungen, ohne jedoch auf nachhaltige Resonanz zu stoßen. In Deutschland blieb er so gut wie unbekannt.
Nur wenige der sogenannten Exil-Schriftsteller schafften es, sich nach dem Krieg in ihren Exilländern wieder eine Existenz aufzubauen oder an schriftstellerische Erfolge der Vorkriegszeit anzuknüpfen. Viele mußten sich mit Gelegenheitsjobs ihren Lebensunterhalt verdienen. Nicht wenige, die es in die Vereinigten Staaten verschlagen hatte, verdingten sich als Drehbuchautoren bei einer der großen amerikanischen Filmgesellschaften. Auch Morgenstern war vorübergehend als Verfasser von Untertiteln für fremdsprachige Filme tätig, konnte jedoch keine dauerhafte Anstellung finden. Sein Hauptaugenmerk war auf die Rekonstruktion der auf der Flucht verlorengegangenen Manuskripte und die Vollendung der Roman-Trilogie gerichtet. Ende der vierziger Jahre erschien die gesamte Trilogie in einem amerikanischen Verlag unter dem Titel Sparks in the Abyss in englischer Übersetzung. Anfang der fünfziger Jahre veröffentlichte er noch einen weiteren Roman: The Third Pillar / Die Blutsäule , der ebenfalls in englischer Übersetzung erschien. Doch auch hier sollte sich kein nachhaltiger Erfolg einstellen.
Morgensterns Entdeckung als Schriftsteller begann erst Anfang der neunziger Jahre, genauer gesagt im Jahr 1994 mit dem Erscheinen des ersten Bandes der Werkausgabe im zu Klampen Verlag. Eine Vorreiterrolle spielte dabei Ingolf Schulte, der Herausgeber dieser Ausgabe, der, wie er in einem Artikel über den ›vergessenen Autor Soma Morgenstern‹ schreibt, »beschloß, dem Namen nachzugehen, der mir lange zuvor in einigen Brieferwähnungen begegnet war« 5. In den Jahren 1991 und 1992 sichtete Schulte Morgensterns Nachlaß in New York, der schließlich zur Grundlange der elfbändigen Werkedition wurde. Die Ausgabe spiegelt die Vielfältigkeit von Morgensterns schriftstellerischer Persönlichkeit. Sie umfaßt zum einen Morgensterns gesamtes Romanwerk, die Trilogie Funken im Abgrund und den Roman Die Blutsäule , die beide bis zu diesem Zeitpunkt nur in den USA und in englischer Übersetzung erschienen waren und hier erstmals vollständig und in deutscher Originalsprache publiziert wurden. Daneben wurde Morgensterns bislang unveröffentlichter letzter Roman Der Tod ist ein Flop zum ersten Mal ediert. Zwei weitere Bände enthalten Morgensterns in der Frankfurter Zeitung erschienene Feuilletons, Theater-, Film- und Literaturkritiken sowie sämtliche Typoskripte, die sich in seinem Nachlaß in den Vereinigten Staaten befanden, darunter auch Manuskriptvarianten, Tagebücher und Notizhefte.
Читать дальше