1 ...6 7 8 10 11 12 ...21 Und auch die Zukunft verheißt nichts Gutes. Die Analysen der Entwicklungspipelines für Medikamente zeigen ein ähnliches Muster. Eine große Zahl laufender und geplanter Studien in der Onkologie untersucht Medikamente mit demselben Mechanismus. 19Aus Patientensicht ist dies in zweierlei Hinsicht bedenklich. Einerseits nehmen diese Patienten an Studien teil, von denen keine echte Verbesserung gegenüber der Standardtherapie zu erwarten ist, andererseits stehen sie anderen, möglicherweise wirklich innovativen Studien nicht zur Verfügung (zum Problem klinischer Forschung in Deutschland komme ich später noch). So wird Geld für überflüssige Entwicklungen verschwendet und versäumt, neue Ansätze mit anderen Wirkmechanismen zu entwickeln und testen. Der „Me too“-Trend ist eines der größten Hindernisse für ernsthafte therapeutische Fortschritte. 20
Angesichts der derzeitigen Informationslücken ist es nicht möglich, Ärzten und vor allem Patienten unparteiische und vollständige Informationen darüber zur Verfügung zu stellen, was sie von einer bestimmten Behandlung zu erwarten haben, einschließlich Informationen über den Nutzen alternativer Behandlungen oder keiner Behandlung. Dadurch wird die Fähigkeit der Patienten, informierte Behandlungsentscheidungen im Einklang mit ihren Präferenzen zu treffen, beeinträchtigt. Letztlich führt das zu einer unethischen Situation für ein Gesundheitssystem wie das unsrige, das sich als patientenzentriert bezeichnet. 21Da die Arzneimittelentwicklung, -zulassung, -erstattung und -preisgestaltung stark reguliert sind, deutet der derzeitige Stand der Dinge letztlich auf ein Versagen der Gesundheitspolitik hin.
Oft wird als letztes Gegenargument noch behauptet, dass mehrere „Me too“-Arzneimittel auf dem Markt die Kosten nach unten treiben würden, da sich das Gesundheitssystem dann nicht mit einem Monopol und möglicherweise anhaltend hohen Preisen konfrontiert sehen würde. Leider erfüllt sich diese Hoffnung auf wettbewerbsbedingte Preissenkungen oft nicht. 22Und selbst wenn es einen wesentlichen Einfluss auf die Preisgestaltung gäbe, würde dies noch immer nicht die immense „Me too“-Entwicklung erfordern, wie dies gegenwärtig der Fall ist. 23
Doch selbst das effektivste und für sich allein sicherste Medikament kann noch Probleme erzeugen. Denn wer nimmt die meisten Medikamente? Ältere Menschen. Und die haben meistens mehr als ein Symptom. So nehmen viele mit der Zeit eine nur noch schwer überschaubare Menge an von verschiedenen Ärzten verschriebenen und selbst gekauften Arzneistoffen ein. Diese tagtägliche therapeutische Realität wird Polypharmazie genannt und schafft Probleme, welche die Patienten ohne Arzneimittel nie gehabt hätten …
Wir befinden uns im Zeitalter der Polypharmazie und setzen immer mehr Medikamente gleichzeitig zur Behandlung der meisten wichtigen Herz-Kreislauf-Erkrankungen ein, darunter Herzschwäche, Angina Pectoris und Erkrankungen der Herzkranzgefäße sowie Bluthochdruck. Eine typische, leitliniengerechte medikamentöse Behandlung der Herzschwäche umfasst heute zum Beispiel vier und mehr Arzneistoffe für denselben Patienten. Die meisten Patienten mit Durchblutungsstörungen des Herzmuskels erhalten heute Aspirin, Betablocker, Nitrate, ACE-Hemmer, Statine und Clopidogrel. So erhalten 80-jährige Patienten im Schnitt acht Arzneimittel. Das verwundert nicht, wenn man sich klarmacht, dass jede therapeutische Leitlinie pro Diagnose im Schnitt drei Arzneimittel empfiehlt.
Eigentlich ist der Begriff Polypharmazie unfair. Er legt nahe, viele Arzneimittel würden unkontrolliert von der Pharmazie, also dem Apotheker, abgegeben. Dem ist aber nicht so; die meisten Probleme resultieren daraus, dass verschiedene Ärzte mehrere Arzneimittel für denselben Patienten verschreiben, ohne die Verordnungen der anderen Ärzte und eventuelle Selbstmedikationen des Patienten gegenzuchecken. Es ist also fairerweise gesagt in der Regel ein ärztliches Problem, eine Polymedizin.
Ältere Menschen gelten, wie Kinder und Schwangere, medizinisch gesehen als besondere Bevölkerungsgruppe. Das haben wir ja zum Beispiel in der Covid-19-Pandemie erlebt. Was Arzneimittel betrifft, weisen ältere Menschen im Vergleich zum Rest der Bevölkerung große Unterschiede hinsichtlich dessen auf, wie ihr Körper mit Arzneimitteln interagiert. Dies betrifft die Aufnahme in den Körper, zum Beispiel aus einer Tablette, wie sich der Arzneistoff verteilt, wie er verstoffwechselt und wie er wieder ausgeschieden wird. Aber auch unabhängig hiervon sind die Wirkung des Arzneimittels, dessen Verträglichkeit und die Compliance des Patienten (also die Regelmäßigkeit, mit der ein dauerhaft verschriebenes Arzneimittel eingenommen wird) beim älteren Menschen stark beeinträchtigt. Ist zum Beispiel die Leberfunktion eingeschränkt, werden viele Arzneistoffe langsamer verstoffwechselt, was zu höheren Blutspiegeln und einer viel zu starken Wirkung führen kann. Ebenso kann die Nierenfunktion eingeschränkt sein, was auch dazu führt, dass ein Arzneistoff langsamer über den Urin ausgeschieden wird, wodurch sich wieder Blutspiegel und damit Wirkungsstärke über einen längeren Zeitraum erhöhen.
Für einen einzelnen Arzneistoff könnte dies noch durch einen sorgfältig verschreibenden Arzt, der zum Beispiel berücksichtigt, wie ein Arzneistoff verstoffwechselt und ausgeschieden wird und wie Leber- und Nierenfunktion des Patienten sind, über eine veränderte Dosierung angepasst werden. Das Problem ist aber, dass ältere Personen häufig mehrere Medikamente einnehmen, da im Alter mehr und mehr Krankheitsdiagnosen hinzukommen. So haben ältere Menschen ab einem Alter von über 80 Jahren im Durchschnitt drei Diagnosen 24, die dadurch, dass pro Diagnose oft mehr als ein Arzneimittel verschrieben wird und noch Selbstmedikation hinzukommt, zur Polypharmazie führen. In Deutschland nehmen ein Drittel aller Männer und Frauen über 65 Jahre fünf oder mehr Medikamente ein. 25
Das Fatale ist, dass hierdurch bei älteren Personen die Wahrscheinlichkeit unerwünschter Arzneimittelwirkungen, die einen Krankenhausaufenthalt erfordern, fast siebenmal so hoch ist wie bei jüngeren Personen. 26Unerwünschte Arzneimittelwirkungen sind mit einem durchschnittlichen Anteil von 6,5 Prozent ein relevanter Grund für Vorstellungen in der Notaufnahme, führen häufig zu stationären Aufnahmen in Krankenhäusern 27und sind die vierthäufigste Todesursache. 28Gemäß einer Studie der Europäischen Kommission beläuft sich die volkswirtschaftliche Belastung in Deutschland bei Krankenhausaufenthalten durch arzneimittelbezogene Probleme auf circa 4,94 Milliarden Euro. Die Kosten für Medikationsfehler wurden seitens der Europäischen Kommission für 2016 auf bis zu 5.689 Euro pro Patientenfall geschätzt.
Da diese Gruppe älterer Menschen oft von Arzneimittelstudien ausgeschlossen wird (man will ja ein möglichst gutes Sicherheitsprofil demonstrieren), gibt es in der Regel kaum Daten bezüglich Sicherheit, Wirksamkeit, Risiken und Nutzen einer medikamentösen Therapie für ältere Menschen sowie infolgedessen nur sehr wenige klare therapeutische Leitlinien für diese Altersgruppe. Dies wird oft als Spezialfall „Gerontomedizin“ oder „Gerontotherapie“ dargestellt; sie stellt aber quantitativ in der alltäglichen Medizin eher die Regel dar. Es besteht daher ein großer Bedarf, die Qualität der Individualisierung der Arzneimittelversorgung und damit letztlich die Lebensqualität älterer Menschen zu verbessern.
Ähnlich verhält es sich übrigens bei der Arzneitherapie für Kinder. Hier gibt es so gut wie keine klinischen Studien und sämtliche Dosierungen sind Schätzwerte. Viele Arzneimittel, die bei Kindern eingesetzt werden, sind nicht ausreichend an Kindern geprüft (welche Eltern würden ihr Kind schon für eine Arzneimittelstudie zur Verfügung stellen, außer es handelt sich um eine lebensbedrohliche Situation und die letzte Rettung) und deshalb auch nicht für Kinder zugelassen. Daher ist die geeignete – das heißt die zugleich wirksame und sichere – Dosierung in der Regel überhaupt nicht bekannt. Zusätzlich fehlt es häufig an für Kinder geeigneten Darreichungsformen. So sind Kinder- und Jugendmediziner häufig darauf angewiesen, Arzneimittel, die eigentlich nur an Erwachsenen ausreichend geprüft wurden, auch bei Kindern anzuwenden. Aber das nur am Rande. Kinder nehmen ja in der Regel nur gelegentlich und dann nur wenige Arzneimittel ein, haben also kein Polypharmazie-Problem.
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