DAS EGO – WENN DAS ICH DAS SELBST VERGISST
Ego ist das lateinische Wort für „Ich“, aber wir werden es mit einer negativen Bedeutung verwenden, weil wir ein Wort brauchen für eine Fehlform des Ich. Auch im oft gebrauchten Wort „egoistisch“ ist Ego negativ belastet. Das „Ich“ wird zum Ego durch einen Prozess des Vergessens. Je mehr ich mein Selbst vergesse, das mich mit allen andren verbindet, desto einsamer und ganz auf mich allein gestellt muss ich mich fühlen. Mein „Ich-Selbst“ schrumpft mehr und mehr zum Ego zusammen, bis ich mein Selbst fast völlig vergessen habe. Ganz vergessen können wir es nie, aber darüber später mehr.
Im Europakloster spielen wir Mönche einmal im Monat nach dem Sonntagsgottesdienst für die Kinder Kasperltheater. Da kann es vorkommen, dass einer der Brüder mit einer Hand das Krokodil spielt, mit der andren die vom Krokodil bedrohte Prinzessin. Wenn wir uns in die Prinzessin hineindenken, wird es uns gewiss Zuversicht schenken, das zu wissen. Wir werden zwar Angst haben vor dem Krokodil, werden aber dem Puppenspieler vertrauen, der uns beide spielt. Aber eine Puppe, die den Puppenspieler vergisst, muss sich als eine leere Haut fühlen, umgeben von unzähligen andren, von denen einige alles andre als freundlich zu sein scheinen. Sie wird also Angst bekommen. Wenn wir vergessen, dass das eine Selbst uns innerlich verbindet, ist Angst fast unvermeidlich. Das Ego sträubt sich voller Furcht*gegen diese Angst*. Furcht aber ist die Ursache für alles, was im Welttheater schiefgeht.
Furcht macht das Ego aggressiv. Dann sucht es Sicherheit, indem es Macht über andre zu erlangen sucht; danach strebt, sich über alle andren hochzuarbeiten, andre zu unterdrücken und sie auszunutzen. Auch wird das Ego ein Gefühl des Mangels nicht los. Aus Furcht, dass nicht genug für alle da ist, wird das Ego gierig, geizig und neidisch. Es hat seine Einbettung in ein größeres Ganzes verloren und ist zum Mittelpunkt geworden, um den sich nun all sein Denken und Streben dreht. Es verstrickt sich immer mehr in eine von Furcht getriebene Gesellschaft, in der Ego auf Ego prallt, eine Gesellschaft – leider unsre eigene! – gekennzeichnet durch Machthunger, Gewalttätigkeit, Gier und Ausbeutung, und all das aus Furcht!
Wie kann das Ego aus dieser Verirrung und Verstrickung heimfinden in die rechte Beziehung zum Selbst? Die Antwort liegt auf der Hand: Aus Vergesslichkeit und Furcht hat es sich verirrt, durch das Gegenteil – also durch Achtsamkeit*und Vertrauen*– kann es den Heimweg finden. Auch das zum Ego gewordene Ich kann ja das Selbst nie ganz vergessen. Es kann also umkehren und heimkehren. Im innersten Herzen des Egos schläft sie nur, die Erinnerung an das Selbst.
Wir können zusammenfassen: Das Ego ist nichts andres als das Ich, aber ein krankes Ich, zusammengeschrumpft, weil es sein weites, allumfassendes Selbst aus dem Bewusstsein verloren hat. Daher hat es auch seine Verbundenheit mit allen andren vergessen und alle echten Beziehungen verloren. Nur durch Beziehungen aber finden wir Sinn*und Orientierung im Leben. Und alle Beziehungen beginnen mit der Beziehung zum Du.
IMMER DU – DENN ALLES LEBEN IST BEZIEHUNG
Die Erkenntnis, dass ich von Anfang an in ein Beziehungsnetz eingebettet bin, bereitet mich auf eine wichtige Einsicht vor: Schon das Wort „Ich“ drückt Beziehung*aus. Es wäre sinnlos, „Ich“ zu sagen, wenn ich dadurch nicht von einem Du unterschieden und zugleich auf dieses Du bezogen wäre. In meiner Umwelt begegnen mir andre, jeder das einzige Ich für sich selbst, jeder ein andres Du für mich. Da draußen begegnet mir unzählige Male ein mir noch unbekanntes kleines Du, in meinem Inneren erlebe ich jedoch darüber hinaus ein einziges, mir von Anfang an bekanntes großes Du – nicht zusätzlich zu all den kleinen Formen des Du, sondern irgendwie sie alle umfassend. Leidenschaft für ein menschliches Du erweist ihre Echtheit und Tiefe dadurch, dass sie zugleich – nicht zusätzlich! – auf das große Du gerichtet ist. Das gilt auch vom leidenschaftlichsten Liebesgedicht des Dichters Rainer Maria Rilke (1875–1926):
Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn ,
wirf mir die Ohren zu: ich kann dich hören ,
und ohne Füße kann ich zu dir gehen ,
und ohne Mund noch kann ich dich beschwören .
Brich mir die Arme ab, ich fasse dich
mit meinem Herzen wie mit einer Hand ,
halt mir das Herz zu, und mein Hirn wird schlagen ,
und wirfst du in mein Hirn den Brand ,
so werd ich dich auf meinem Blute tragen .
Dass hier wirklich beide Du-Ebenen gemeint sind, beweist die Tatsache, dass Rilke diese Zeilen für Lou Andreas-Salome, die große Liebe seines Lebens, schrieb, sie aber kurz darauf in sein „Stundenbuch“ aufnahm – als Gebet.
Von Anfang an ist es dieses letztgültige Du, welches es mir möglich macht, im vollen Sinne „Ich“ zu sagen. Jede äußere Begegnung mit einem kleinen Du kann mein Verständnis des großen Du vertiefen und bereichern. Jedoch nur in Bezug auf dieses große Du hat es Vollgewicht, wenn ich sage: „ Ich bin durch Dich so ich “ – „ i am through you so i “. Das Wort stammt vom Dichter e. e. cummings (1894–1963), der darauf bestand, alles, auch seinen Namen, in Kleinbuchstaben zu schreiben.
Kann ich aber sicher sein, dass mein großes Du mehr ist als ein Sammelbegriff für alle meine kleinen Dus, mehr als nur ein verallgemeinertes Du? Steckt da wirklich mehr dahinter? Eine Beobachtung, die mir geholfen hat, das „Mehr“ meines inneren Du zu entdecken, ist folgende: Unser Lebenslauf wird uns nicht als eine unzusammenhängende Abfolge von Episoden bewusst, sondern als eine sich entfaltende Handlung, eine Geschichte, eben unsre Lebensgeschichte. Jede Geschichte will erzählt werden. Je näher ich einem lieben Menschen komme, desto mehr drängt es mich, ihm meine Lebensgeschichte zu erzählen. Aber hier stoße ich auf eine überraschende Tatsache: Ich kann diese Geschichte auch dem liebsten menschlichen Du nie vollkommen mitteilen. So sehr ich es auch versuche, am Ende fühle ich doch schmerzlich: Das Wichtigste scheint nicht ganz rübergekommen zu sein. Nur bei meinem inneren Ur-Du, das an jedem Schritt der Geschichte teilnimmt, während sie sich ereignet, ist das anders. Nur meinem großen Du kann ich meine Lebensgeschichte erzählen und fühlen, dass ich verstanden werde. Zu diesem Du spricht Rilke, wenn er sagt:
Ich geh doch immer auf dich zu
mit meinem ganzen Gehn;
denn wer bin ich und wer bist du ,
wenn wir uns nicht verstehn?
Dieses Hingehen auf mein inneres Du ist meine Urbeziehung, auch wenn sie mir erst durch Nachdenken allmählich klarer bewusstwird. Sie schwingt mit, wann immer ich einem Du begegne. Anfangs mag dies kaum mehr sein als eine Ahnung, aber ich kann mir darüber Gedanken machen und einsehen, warum dies so sein muss: Mein Ur-Du ist das Herz des Geheimnisses*, das, wie Robert Frost sagte, in der Mitte sitzt, während wir rätselnd rundum im Kreis tanzen. Somit ist das große Du für uns alle ein und dasselbe. Diese schwerwiegende Einsicht können wir uns so tief zu eigen machen, dass sie unsre Haltung allen Mitmenschen gegenüber bestimmt, sie schwingt aber unterschwellig schon von Anfang an mit.
Nichts könnte wichtiger sein, als die Beziehung zu unsrem inneren Du zu pflegen. Lass nur ruhig die Zyniker behaupten, dein inneres Du sei nichts andres als eine Neuauflage der imaginären Spielkameraden, von denen Kinder oft fantasieren. Du kannst den Unterschied ganz klar erkennen: Das, was deine Fantasie erfindet, tut, was du willst. Das große Du aber, das dir in jedem kleinen Du begegnet, stellt Anforderungen an dich – wortlose, aber beachtliche Anforderungen. Es verlangt Aufrichtigkeit, Ehrfurcht, Treue …
Читать дальше