1 ...8 9 10 12 13 14 ...57 Das PZB, Psychiatrisches Zentrum Bodensee, wurde sein persönlicher Albtraum. Nicht etwa wegen der Medikamente, mit deren Hilfe sie die Stimmen in seinem Kopf für einige Tage fast mundtot machen konnten (welch Leere!), auch die gepolsterten Manschetten an Hand- und Fußgelenken und der dicke, mit magnetischen Schlössern gesicherte Bauchgurt waren ihm im Nachhinein egal. Was ihm aber zu schaffen machte, war das Gefühl der Ohnmacht. Mit der Einweisung und einer anschließenden recht undifferenzierten Diagnosestellung hatten sie ihn all seiner Macht beraubt, der Macht über das eigene Leben und das eigene Handeln. Er war ohne Macht. Der einzig gangbare Weg aus der Psychiatrie führte ihn damals durch einen viermonatigen Wust an Gesprächskreisen, in denen jeder Patient vor seinen Therapeuten und den unglücklichen Mitpatienten hemmungslos sein Innerstes nach außen kehren musste. Unterbrochen wurden die Sitzungen von Einzelgesprächen, therapeutischen, gemeinschaftlichen Spaziergängen am Bodenseeufer und der gelegentlichen Ankunft eines neuen Opfers, auf das sich die Pfleger, dankbar für die willkommene körperliche Betätigung, mit Enthusiasmus stürzten und fürs Erste an ein Bett fixierten.
Überhaupt war dies das Schlimmste – fixiert zu werden. Es war diese körperliche Gewalt und die damit einhergehende Ohnmacht, welche der psychischen Gewalt das i-Tüpfelchen aufsetzte.
Aber als sie die Medikamente reduzierten, sein Kopf klarer wurde und die Stimmen zaghaft zurückkehrten, hatte er diese eisern geleugnet. Nur seinem Arzt, Dr. Meier, der ihn ambulant hier im Allgemeinkrankenhaus in Donaueschingen weiterbehandelte, vertraute er sich manchmal an. Ihm erzählte er ein wenig von Nummer eins, der Stimme eines alten Mannes, die weise und überlegen alles begreift und über allem steht. Er war selten zu hören und wenn, dann meist nur, um Nummer zwei oder drei in die Schranken zu weisen, wenn diese wieder einmal völlig den Verstand verloren hatten. Nummer zwei war eine Frauenstimme. Sie überlegte sich zu jedem Schritt, den Thomas unternahm, mindestens drei Alternativen. Bei ihr konnte er, während ihr Geschwätz den letzten Rest Klarheit aus seinen Gedanken spülte, immer nur verlieren. Garantiert hielt sie ihm hinterher vor, dass es ja noch Alternativen gegeben hätte und SIE ihm diese vorgeschlagen hatte und er mit den anderen Möglichkeiten auf jeden Fall besser gefahren wäre.
Nummer drei war sein Albtraum. Nummer drei war verrückt! Er hatte eine schrille, blecherne Stimme und kicherte unentwegt. Nummer drei war auch an seiner Einweisung in die Psychiatrie schuld. Sie, Thomas und seine drei imaginären Begleiter, waren an diesem Tag vor zwei Jahren in Konstanz gewesen und warteten auf den Zug zurück nach Donaueschingen, wo Thomas seit seiner Geburt lebte. Nummer drei hatte schon die ganze Zeit gelacht und auf ihn eingeredet, wie unsagbar schlecht doch diese Welt sei und dass es für Menschen wie ihn keinen Platz gäbe. Die einzig ehrenvolle Möglichkeit, dem Ganzen ein Ende zu bereiten, sei, sich vor den nächstbesten Zug zu werfen.
Diese Bemerkung hatte die anderen auf den Plan gerufen. Nummer zwei hatte prinzipiell zugestimmt, dabei aber an durchaus brauchbare Alternativen erinnert: man könne zum Beispiel Gift nehmen oder nach Paris reisen und sich vom Eiffelturm stürzen oder eine Guillotine bauen und sich selbst im Sinne der immerwährenden Weltrevolution richten. Man könne aber auch mit einem Fremden hier auf dem Bahnsteig einen Streit vom Zaun brechen und sich von ihm vor den Zug werfen lassen. Schließlich meldete sich Nummer eins (sein Kopfschütteln konnte Thomas in diesem Moment auf dem Bahnsteig fast körperlich spüren) und verlangte, die Entscheidung zum Thema Selbstmord wenigstens so lange zu verschieben, bis man, zu viert sozusagen, noch einmal in aller Ruhe jedes Für und Wider hierzu ausdiskutiert habe und (ganz wichtig!) die Meinung Betroffener eingeholt wäre.
In diesem Augenblick fuhr der Zug ein. Die Stimmen in seinem Kopf brachen sich Bahn und schrien und tobten: Los, hihi, los, spring! Hihi, wir haben es gleich geschafft!
Also ich würde den Eiffelturm vorziehen. Ich wollte schon lange einmal Paris sehen! Oh, Paris …
Nummer eins räusperte sich immer wieder, wurde aber von den anderen beiden ignoriert und übertönt.
In diesem Moment war Thomas auf dem Bahnsteig zusammengebrochen und während der Zug mit kreischenden Bremsen zum Stehen kam, kniete er inmitten verständnislos blickender Menschen auf dem Bahnsteig. Sie strömten an ihm vorbei und Thomas hielt sich die Ohren zu und schrie. Er schrie so laut er nur konnte, um dem Lärm in seinem Kopf Herr zu werden, um die, die ihm seit Jahren so vertraut waren, zu übertönen. Dann kamen zwei Polizisten und trugen Thomas, weiter schreiend, weg. Jetzt, im Aufzug, verhielten sich die drei auffallend still.
»Und? Keine Kommentare, keine Ratschläge oder Meinungen?«, fragte Thomas leise.
Ich sagte schon, dass die Treppe sicherer gewesen wäre. Sonst nichts.
Auf Thomas’ Stirn bildeten sich erste Schweißperlen. Er verharrte weiter in der Kabinenmitte, als könne eine einzige unbedachte Bewegung seinerseits die Kabine zum Absturz bringen. Aber selbst wenn dieser ziemlich abwegige Fall eintreten sollte, konnte er nicht allzu tief stürzen, er befand sich bereits fast am tiefsten Punkt des schmalen Aufzugschachtes.
Schließlich wagte er eine erste Bewegung. Er streckte die Hand aus. Er wusste, dass er mit dem Gesicht Richtung Tür stand. So stellte er sich in jeden Aufzug, vielleicht um sehen zu können, wer beim nächs ten Halt ein- oder ausstieg oder weil man einen Eingang, noch dazu den einzigen, einfach im Auge behalten muss! Jede andere Stellung hätte etwas Verschämtes, eine Bestrafung wie in der Schulzeit, wo Thomas manche Unterrichtsstunde in der Ecke, mit dem Gesicht zur Wand und allein mit sich und seinen verirrten Gedanken, zubringen musste.
Er versuchte einen kleinen Schritt nach vorn, aber Nummer zwei hielt ihn zurück.
Das würde ich nicht tun!
Thomas hielt abrupt in der gerade begonnenen Bewegung inne –
ein Hund, der vom Hof rennen will, aber von einer klirrenden Kette mitten in der Bewegung zurückgerissen wird.
Oder bist du dir sicher, dass der Boden vor dir noch da ist? Was ist, wenn wir irgendwo im Nichts auf einer schmalen Säule stehen? He, wo hin führt uns dann dein tapferer Schritt nach vorn? Thomas wollte sich gerade ihre Worte durch den Kopf gehen lassen, als Nummer eins seine Zweifel zerstreute:
Wir sind in einem Aufzug gefangen. Und ein Aufzug hat bekanntlich vier Wände, eine Decke und einen Boden. Also los, hör nicht auf das Geschwätz.
Nummer zwei räusperte sich. Das war die ganze pikierte Antwort. Jedes weitere Wort verkniff sie sich.
Thomas erschien das Argument mit der eventuellen Säule abwegig. Aber wenn sie nun doch recht hat? Hätte er vor ein paar Minuten auf sie gehört, wäre er jetzt im Treppenhaus. Und in Sicherheit. Er rieb seine Handflächen aneinander und atmete meditativ mehrmals mit geschlossenen Augen tief durch, um seine aufsteigende Angst zu bekämpfen. Er spürte sie deutlich, seine Angst. Sie wohnte irgendwo in der Nähe seines Magens, wo sie normalerweise nicht weiter auffiel oder störte. Aber in Situationen wie dieser (und ein stecken gebliebener Aufzug war nun wirklich wie geschaffen, Angst zu verbreiten, selbst wenn das Licht noch funktionierte − was in diesem Augenblick bekanntlich nicht der Fall war) streckte sich das kleine Pflänzchen Angst. Es öffnete die tausend Augen und, einmal wach geküsst, gab es dann kaum noch ein Halten.
Aber Thomas hatte gelernt, gegen seine Ängste zu kämpfen! In ihm wohnten viele Ängste und er kannte sie alle. Die Angst vorm Alleinsein, Angst vor der Dunkelheit, Angst, ausgelacht zu werden, Angst vor der Psychiatrie, den Pflegern dort und dem Fixiertwerden. Des Weiteren war da noch die Angst vor Frauen (die einzige Frau, mit der er einigermaßen auskam, war Nummer zwei), die Angst vor Neu em und Höhenangst.
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