Am 28. November des vergangenen Jahres gelang es dem ersten Baustein, auf der verbotenerweise mitgebrachten privaten CD von Paul-Werner Hagendorn, einem mittleren Bundesbeamten, die Tore des Bundesinnenministeriums zu passieren. Er hatte vor wenigen Wochen geheiratet. Komponente zwei und drei warteten damals bereits geraume Zeit auf seinem Computer. Von seiner Karibikkreuzfahrt, das Hochzeitsgeschenk ihrer Eltern, hatten sie neben einem ordentlichen Sonnenbrand, der Erfahrung des ersten Ehekrachs und einigen unbedeutenden Souvenirs auch den fehlenden Baustein Numero eins mitgebracht. Der Service der Kreuzfahrtgesellschaft, ihren Kunden an Bord das Überspielen von digitalen Fotos auf eine DVD zu ermöglichen, hatte dieser Anfang August einen Virus eingebracht. Den verteilten sie fortan an Besucher aus der ganzen Welt, auch an Paul-Werner Hagendorn.
Während die Kolleginnen und Kollegen nun über den gelungenen Hochzeitsbildern die Köpfe zusammensteckten, enterten die drei Teile den ersten Regierungscomputer. Ein reger Postverkehr via E-Mail und deutsche Gründlichkeit, die Kopien eines Vorganges an eine Unzahl angeblich Beteiligter verlangte, verhalfen den Komponenten zu einer raschen Verbreitung in allen Ministerien. Und von da aus ging es weiter zu befreundeten und auch weniger befreundeten Regierungsfestplatten in der ganzen Welt und natürlich nach Brüssel.
05. Mai
Die Ansteckungsgefahr der für die Versorgung der Bevölkerung als absolut lebenswichtig definierten Einrichtung war − einer UN-Studie zufolge, die viel Zeit und noch mehr Geld verschlungen hatte − als gering bis nicht existent zu erachten. Diese Studie, die sich wohlgemerkt auf Computerviren und nicht auf grippale Infekte bei der jeweiligen Belegschaft bezog, wurde von einem neunköpfigen Gremium in jeweils mehrwöchigen Aufenthalten in Sao Paulo, Islamabad und Sydney erarbeitet. Bis auf die australische Metropole entsprachen diese Orte den Herkunftsländern der drei gleichberechtigten Direktoren des Gremiums. Sydney wurde gewählt, weil der Vertreter Vanuatus in seinem Heimatland kein der Bedeutung des Projektes entsprechendes Tagungszentrum fand. Die Teilnehmer gehörten folgenden Berufen an: Politologen/Diplomaten: 5, Mediziner: 2, Metallbauingenieur: 1, Betriebswirtschaftler: 1.
Das in sieben Sprachen abgefasste und jeweils circa zweihundertvierzigseitige Hauptdokument wurde von einer die Fußnoten erklärenden Begleitbroschüre ergänzt, welche ungefähr dreihundert Seiten umfasste. Titel der Broschüre wurde nach zähen Verhandlungen: »Über Gefahren und Gefährdungen einer Destabilisierung der öffentlichen, der privaten und der staatlichen Ordnung, Sicherheit und Handlungsfähigkeit, hervorgerufen mittels mutwillig, fahrlässig oder grob fahrlässig direkt oder indirekt (d. h. über Dritte, welche als Überbringer, nicht aber als Verursacher zu betrachten, zu behandeln und eventuell zu verurteilen sind) herbeigeführter Störungen der oben angeführten Bereiche und den hieraus resultierenden Folgen für das persönliche und das allgemeine Wohl und den Zustand der bestehenden Ordnung«. Die Quintessenz der Studie war die Feststellung, dass die heute existenten Sicherheitsvorkehrungen, nach Ansicht dieser Fachgruppe, einen absichtlichen oder versehentlichen weltweiten Virenbefall aller computergesteuerten Systeme ausschließen würden.
Die Studie wurde am 5. Mai ohne große Beachtung der Weltöffentlichkeit in New York vorgestellt.
Zur selben Zeit erreichten die drei Bauteile des vor über dreihundert Tagen geschaffenen Virus’ das letzte Kraftwerk in Deutschland. Ein Servicetechniker, welcher in der vergangenen Woche das Computersystem im Kraftwerk Schwedt auf den aktuellen Stand gebracht und sich dabei den kompletten Virus eingefangen hatte, installierte zusammen mit dem aktuellen Betriebssystem auch die drei Komponenten in Frankfurt an der Oder.
23. Mai, 07:15 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen, Aufzug 2
Der Aufzug war vor einer Viertelstunde zwischen Keller und Erdgeschoss des dreistöckigen Gebäudes mit einem abschließenden Zittern stehen geblieben. Zeitgleich flackerten die grellen Deckenlichter, dann gingen sie aus. Ebenso das rote Schimmern der Anzeige, die soeben im Begriff gewesen war von minus eins auf null umzuspringen. Noch ein letztes halbherziges Ruckeln des Stahlkastens, dann war Ruhe.
Thomas Bachmann stand jetzt seit fünfzehn Minuten reglos in der Mitte des vielleicht drei Quadratmeter messenden Aufzuges. Thomas war mittelgroß, dünn, hatte hängende Schultern, struppiges, schwarzes Haar und dichte Brauen. Er hatte das rasch schwächer werdende letzte Zittern um sich herum genau registriert und im selben Maß, in dem der Aufzug langsam auspendelte, wuchs der Kloß in seinem Hals und nahm das Geräusch von viel zu schnell und viel zu heftig pulsierendem Blut in seinen Ohren zu. Thomas Bachmann schob die wuls tige und weit vorstehende Unterlippe noch weiter nach vorn. Nervös knabberte er an den spröden Hautfetzchen rechts und links der kurzen Fingernägel.
Hab ich’s dir nicht gesagt? Nimm nicht den Aufzug, sagte ich, aber nein, der junge Mann weiß ja Bescheid und ist völlig normal und so wie jeder Normale muss er natürlich in diesen Stahlsarg steigen. Und jetzt? He, was ist jetzt?
»Sei still«, flüsterte Thomas. Das war Nummer zwei, die gesprochen hatte. Nummer zwei, weiblich, die immer (hinterher) alles ganz genau und natürlich besser wusste. Nummer zwei, die Stimme der Frau in seinem Kopf.
Der kleine Personenaufzug war knapp drei Meter hoch und vom braunen Boden bis zur Decke mit Aluminiumplatten ausgekleidet, ebenso die zweigeteilte Schiebetür. Wenn das Licht funktionierte, glänzte das Aluminium. Aber jetzt war es finster. Ein kinderarmdickes Stahlrohr klammerte sich an drei Seiten der Kabine in Hüfthöhe an die Wand. Wenn sich größere Menschen, vielleicht ab eins neunzig, an die Wand lehnten, gab ihnen das quer hinter ihrem Gesäß verlaufende Stahlrohr das Gefühl, Tester einer noch nicht ganz ausgereiften mittelalterlichen Donnerbalkenkonstruktion zu sein. In die Decke waren zwei quadratische Milchglasscheiben eingelassen. Sie verström ten im Normalfall grelles Kunstlicht, jetzt waren sie blind, wie auch die Etagenanzeige des Fahrstuhls, unter der die fünf kleinen Tastenquadrate der einzelnen Etagen vom Keller bis zum dritten Stock angebracht waren. Daneben hing ein Notruftelefon.
Thomas stand stocksteif in der Kabinenmitte und klammerte sich mit beiden Händen an seine glänzende schwarze Aktentasche. Er versuchte sich zu konzentrieren, auf sich, seine drei Stimmen, auf Geräusche, die vielleicht zu ihm vordrangen, auf Licht – er wusste nicht genau auf was. Aber er konzentrierte sich und das mit aller Macht. Denn sein Arzt hatte ihm bei einer ihrer letzten Sitzungen ganz klar gesagt, dass er die Kontrolle um jeden Preis behalten müsse, dass er, Thomas, in keiner Situation die Ruhe verlieren dürfe. Denn auf diesen Moment würden Nummer eins, Nummer zwei und vor allem Nummer drei nur warten, vierundzwanzig Stunden am Tag. Was die drei Stimmen in seinem Kopf aber machen würden, sollte er doch einmal die Kontrolle verlieren – auf diese Frage wusste auch sein Arzt keine Antwort, nur, dass es schlimm werden würde, die Stimmen in pausenlose Streitereien verfallen würden und er, Thomas, dann wahrscheinlich nicht mehr ambulant behandelt werden könnte, sondern wieder in eine Anstalt müsse. Und davor hatte Thomas Angst, vor der Anstalt, der Psychiatrie!
Keine Kontrolle zu besitzen war in seinen Augen nicht weiter schlimm. Man konnte sich sorglos dahintreiben lassen, was er oft genug auch ausführlich tat, und abwarten, was das Leben als Nächstes bereithielt. Und manchmal gaben ihm seine Stimmen einen Ratschlag, manchmal sogar einen brauchbaren.
Aber vor der Psychiatrie hatte er Angst.
Vor zwei Jahren, kurz nach seinem sechsundzwanzigsten Geburtstag, war er ins PZB eingewiesen worden. Gegen seinen Willen!
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