In diesem Zusammenhang ist auch das Hauptanliegen des Projekts Schnupperstunde 4 Französisch im Netzwerk der Elysée-Kitas und der vorliegenden Untersuchung zu sehen. Es geht darum, Kindern Bildungschancen zu vermitteln, die zur politischen, sozialen und kulturellen Teilhabe innerhalb der europäischen Gesellschaft befähigen. Ein wichtiger Baustein dafür ist die Kompetenz zu echter Mehrsprachigkeit, wie sie in der europäischen Charta für Mehrsprachigkeit oder von Sprachwissenschaftlern wie Jürgen Trabant5 gefordert wird.
Die Münchner Schnupperstunde Französisch im Netzwerk der Elysée-Kitas sieht sich diesem Ziel für alle Kinder verpflichtet, egal welcher sprachlichen, kulturellen oder staatsbürgerlichen Herkunft: Die Kinder haben nicht nur ein Recht auf Bildungschancengleichheit, sondern der Städtische Träger sieht sich auch in der Pflicht, diesem Anspruch gerecht zu werden. Daher lautet die Zielsetzung der Schnupperstunde nicht ausschließlich, Kindern einen möglichst frühen Kontakt mit der Fremdsprache Französisch anzubieten oder, wenn sie aus dem frankophonen Raum stammen, ihre Muttersprache zu fördern, sondern auch, ihnen neben Deutsch mit Französisch noch wenigstens eine weitere Sprache zugänglich zu machen, um damit eine Grundlage für die weitere Entfaltung ihrer Mehrsprachigkeit zu legen. Europa beginnt im Kleinen.
An dieser Zielsetzung ist auch die vorliegende Studie orientiert, was sich in drei Fragestellungen niederschlägt. Es geht vordergründig nicht ausschließlich darum, den sprachlichen Fortschritt und Erfolg zu messen, die Qualität der Organisation und der Durchführung der Schnupperstunde in den Einrichtungen zu beurteilen oder die Kompetenzen der Fachlehrkräfte sowie des pädagogischen Personals zu evaluieren. Untersucht wurde der grundsätzliche bildungs- und gesellschaftspolitische Mehrwert von Mehrsprachigkeit und zwar in einer sehr frühen Phase kindlicher Entwicklung und Sozialisation. Das Ziel politischer, gesellschaftlicher wie auch kultureller Teilhabe durch Mehrsprachigkeit kann nur gelingen, wenn diese kompetent auf den Ebenen der Organisation und der didaktisch-pädagogischen Umsetzung sichergestellt wird. Die der vorliegenden Studie zugrunde liegenden Deskriptoren, die diese beiden Ebenen beschreiben, sind allenfalls als Indikatoren für die Beantwortung der drei Fragestellungen, jedoch nicht als absolute Kategorien zu verstehen.
1.1 Früher Fremdsprachenerwerb, Migration, Inklusion
Die Stadt München unternimmt große Anstrengungen, frühen Fremdsprachenerwerb als ein Instrument zur Förderung von Integration in Migrationskontexten zu unterstützen. Dazu wird als eine Maßnahme die Inklusion fremdsprachiger Kinder in den Kindertageseinrichtungen unter städtischer Trägerschaft angestrebt und beispielsweise mit dem Projekt der Elysée-Kitas umgesetzt. Zur Erfassung und Beurteilung des Zusammenhangs von Fremdsprachenerwerb, Migration und Inklusion, wurden bereits zahlreiche Forschungsergebnisse veröffentlicht, die viele populäre Vorurteile insbesondere in Bezug auf frühe Mehrsprachigkeit1 widerlegen. Pädagogen, politische Entscheidungsträger und Eltern werden in diesem Kontext hauptsächlich mit drei Fragen konfrontiert, die unter Hinzuziehung der aktuellen Forschungslage beleuchtet werden.
Hat Mehrsprachigkeit bei Kindergartenkindern2 möglicherweise einen negativen Einfluss auf deren kognitive, sprachliche und soziale Entwicklung?
Studien zur kognitiven, sprachlichen und sozialen Entwicklung von Kindern zeigen durchaus, dass bilinguale Kinder in jeder ihrer Sprachen einen geringeren Wortschatz erwerben als einsprachige. Bei Bildbenennungstests sind bilinguale Kinder langsamer und ihre Fehlerquote ist höher als bei monolingualen. Wiederholt man allerdings den Test, erreichen die bilingualen beim fünften Durchgang die Ergebnisse von monolingualen Kindern, während letztere ihre Leistung nicht verbessern können.3 „Dies ist, nach Ingrid Gogolin, dem Umstand geschuldet, dass bei der Aneignung von Wortschatz – anders als beim Erwerb von Strukturen – der konkrete Input maßgeblich ist, den ein Kind erfährt“.4
In diesem Punkt sind sich jedoch die meisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einig: Den direkten Vergleich der lexikalischen Leistungen von bilingualen und monolingualen Kindern muss man methodologisch unter Vorbehalt wahrnehmen, wenn die bilingualen als Maßstab genommen werden. Sollen z. B. Eigennamen und cognates (transparente Wörter wie rose/rosa; Maman/Mama ) einzeln oder doppelt gezählt werden? An diesem Beispiel sieht man, dass mono- und bilinguale Kinder bezüglich ihrer sprachlich-kognitiven Fähigkeiten nur bedingt vergleichbar sind, denn grundsätzlich sind beim praktischen Sprachhandeln Zwei- oder Mehrsprachiger in der Regel nicht alle Bereiche des Sprachgebrauchs doppelt vorhanden. Die Mehrsprachigkeit funktioniert nach dem Prinzip der Komplementarität, d.h., sie ergänzt sich. In einigen Domänen wird die eine Sprache bevorzugt, in anderen die andere(n) Sprache(n).5 Ein Kind, das mit dem deutschsprachigen Papa in den Zoo geht, kennt mehr Tiernamen auf Deutsch, die Musiknoten dafür nur auf Französisch, weil es diese mit der frankophonen Mutter übt. Hiermit ist eine ungleiche Verteilung von Wortschatz über die Domänen verbunden, je nach Funktionalität der jeweiligen Sprache(n) in einzelnen Lebensbereichen. Fest steht, dass die Menge des Wortschatzes, über die Bilinguale in jeder Einzelsprache verfügen, zwar geringer ist, die Gesamtmenge des verfügbaren Wortschatzes Zwei- oder Mehrsprachiger aber nicht hinter der Einsprachiger zurückbleibt, sondern in zahlreichen Fällen sogar höher ausfällt.6
Bereits seit 50 Jahren bestätigen sowohl Fallstudien als auch Gruppenstudien aus Europa und Nordamerika Zusammenhänge zwischen Mehrsprachigkeit und kognitiven Leistungen. Aus den Neurowissenschaften weiß man, dass neuronale Hirnstrukturen und Kompetenzen nicht stabil sind. Die Neuronen strukturieren sich ständig mit jeder neuen Erfahrung um. Diese Art der Anpassung nennt man Neuroplastizität. Sie ermöglicht es uns, in einer sich ständig verändernden Welt zu überleben.7 Mehrsprachigkeit ist für die Neuroplastizität ein herausragender Faktor, denn in einem Menschenleben gibt es kaum eine intensivere Aktivität als unsere Interaktionen mit Sprache. So kann man zwar mehrere Stunden täglich musizieren oder Sport machen, mit sprachlichen Zeichen beschäftigen wir uns jedoch jede Sekunde auf irgendeine Art und Weise, wenn wir sprechen, hören, denken, träumen, lesen etc. Alle sprachlichen Aktivitäten beanspruchen das gesamte Gehirn, sie sind nicht in einem isolierten Bereich lokalisierbar.8 Ellen Bialystok konnte empirisch nachweisen, dass Mehrsprachigkeit in hohem Maße Prozesse der Selbstregulation und Aufmerksamkeitssteuerung erfordert: „Antworte in der einen Sprache, unterdrücke die andere“9, so lautet die ständige kognitive Konfliktlösungssituation eines mehrsprachigen Kindes. Bei einem bilingualen Kind sind die zwei Sprachen zu einem gewissen Grad ständig aktiviert. Dennoch ist es in der Lage, in der Regel die richtige Sprache im zugehörigen Kontext zu benutzen. Die andere Sprache wird dabei durch einen sog. exekutiven Kontrollprozess unterdrückt. Das Kind entwickelt damit einen Mechanismus der Selbstregulation, der für die kognitive, soziale und motorische Entwicklung zentral ist. Davon ausgehend, dass Mehrsprachige eine besondere Übung in der Kontrolle der Aufmerksamkeit haben, wurden verschiedene kognitive Tests10 zur inhibitorischen Kontrolle durchgeführt.
Die Inhibition oder inhibitorische Kontrolle ist die Fähigkeit, impulsive (oder automatische) Reaktionen zu kontrollieren oder zu hemmen, um durch logisches Denken und Aufmerksamkeit Antworten zu finden. Diese kognitive Fähigkeit zählt zu den exekutiven Funktionen und ermöglicht Antizipation, Planung und Zielsetzung. Die Inhibition blockiert bestimmte Verhaltensweisen und stoppt unpassende automatische Reaktionen, indem eine Antwort durch eine andere ersetzt wird, die besser ausgeklügelt ist und sich besser an die Situation anpasst. 11
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