1 ...8 9 10 12 13 14 ...21 Leon fuhr von Singen nach Überlingen über Radolfzell. Ein Ortsschild lockte ihn nach Moos. Die Höri-Gemeinde neben Radolfzell war für ihn als Feinschmecker immer einen Abstecher wert. Zwei gute Restaurants hatte er dort auf seiner Liste stehen. Das Restaurant Gottfried oder, direkt daneben, der Grüne Baum. Eines der beiden Lokale war immer geöffnet, gleichgültig also, welches heute Ruhetag hatte. In den beiden Restaurants kochten zwei Brüder um die Wette. Beide waren angetan von der französischen Küche. Und Leon hatte Lust auf eine Bodensee-Bouillabaisse.
Er fuhr auf den Parkplatz, den die beiden Gourmets brüderlich teilten, und sah, dass im Grünen Baum Licht brannte. Also war es entschieden; Hubert, der jüngere Bruder, würde Leon heute verwöhnen. Hubert war ein Unikat, sein Mooser Fischtopf eine Köstlichkeit. Leon hatte ihn erst einmal gegessen. Der Mann machte eine Rouille, da konnten die Franzosen noch etwas lernen. Wobei Hubert Neidhart solche überschwänglichen Komplimente eher kleinredete. Denn sein Vorbild für sein Gasthaus auf der Höri war nach wie vor die typische französische Dorfgaststätte. In solchen Gasthäusern hatte er seine Lehr- und Wanderjahre verbracht, und diese Küche hatte ihn geprägt.
Leon parkte und stieg aus. Plötzlich wurde er unschlüssig. Er sah in sein Portemonnaie und zählte 25 Euro. Das musste genügen, für die Bodensee-Bouillabaisse und ein Glas Wein. Trotzdem überkam ihn ein schlechtes Gewissen. Nicht wegen des Geldes. Er dachte an Lena. Das letzte Mal war er mit ihr hier, sie hatte ihn mit den beiden kochenden Brüdern bekannt gemacht. Ihr hatte er den Tipp zu verdanken. Kurz hielt er inne, blieb stehen, im gleichen Moment klingelte sein Handy. Unschlüssig griff Leon in die Tasche, zog das kleine Ding heraus und sah auf das Display.
Verdammt! Er fühlte sich ertappt. Lena versuchte ihn gerade in diesem Augenblick, als er mit sich kämpfte, zu erreichen. Was sollte er jetzt tun?
Beherzt nahm er das Gespräch an: »Ich fahre gerade zu einer Pressekonferenz«, log er schnell. Er hatte einfach geredet, er wusste nichts anderes zu sagen. Während er sich aber reden hörte, schämte er sich auch schon für seine Lüge. Doch er konnte Lena nicht einfach die Wahrheit sagen, er hatte nun mal keine Lust, sie zu sehen, er musste heute Abend schließlich noch seine Steuer auf die Reihe bringen, beschwichtigte er sich selbst.
Auf der anderen Seite wusste er, dass es gerade heute Lena beschissen ging. Denn kurz nachdem er seine Wohnung am See bezogen hatte, attestierten die Ärzte bei ihr Krebs. Zuerst hatte sie nur Schmerzen im Unterleib. Dann ging alles plötzlich sehr schnell. Diagnose: Tumor am Gebärmutterhals.
Er und Lena wurden gemeinsam in einen Strudel von Angst und Schrecken geschleudert. Leon hatte sofort im Internet recherchiert: Die zweithäufigste Krebsart bei Frauen; 230.000 Tote jährlich weltweit; Überlebenschance immerhin 70 Prozent, dank des heutigen medizinischen Wissensstands.
Lena wurde operiert, der Tumor entfernt. Zurzeit musste sie eine dreimonatige Chemotherapie über sich ergehen lassen. Er selbst konnte nichts tun, das war sein Problem. Er konnte ihr nicht helfen. Er war machtlos, konnte nur danebenstehen, sah ihr zu, sah ihr Leiden, ihre Schmerzen, ihre Übelkeiten und das ganze Elend. Es war zum Verzweifeln, auch für ihn.
Am Anfang stand er liebevoll zu ihr. Er war in fast jeder freien Minute mit ihr zusammen. Doch mit der Zeit wurde dieses Aushalten zum Höllentrip.
Vor acht Wochen hatte Lena mit ihrer Chemotherapie begonnen. Seither war alles von Grund auf anders. Besonders in den Tagen nach der Infusion. Da war sie niedergeschlagen und sah völlig mitgenommen aus. Und heute hatte sie erst ihren vierten Termin gehabt, sechs Infusionstermine standen noch an. Leon hatte das Gefühl, jetzt schon am Ende zu sein, gleichzeitig wusste er, dass er eben feige gelogen hatte. Doch einen Weg zurück sah er nicht.
Lena bedauerte seine Absage, gab ihm aber auf ihre verständnisvolle Art zu verstehen, dass sein Job und der Pressetermin natürlich Vorrang hatten. Sie hatte schon von der Schießerei am Zoll in Wiechs am Randen und der Festnahme der Täter in Singen im Radio gehört.
Leon stöhnte, er fühlte sich nach der Absolution noch beschissener, flüsterte ihr trotzdem ein paar aufmunternde Worte ins Telefon und legte schnell auf. Gleichzeitig kam er sich so mies vor, wie es vermutlich Lena gerade ging.
Der Mooser Fischtopf mit den Bodenseefischen Hecht, Zander und Kretzer sowie der sagenumwobenen Rouille ließen ihn schnell wieder an seine Bodenseeliebe glauben. Er schrieb Lena eine aufmunternde SMS, verdrängte für den Rest des Abends sein schlechtes Gewissen und bestellte noch ein zweites Glas Wein. Der Riesling vom Hohentwieler Elisabethenberg des Weinguts Vollmayer schenkte ihm eine angenehme Säure und die Sicherheit, dass seine Entscheidung, an den Bodensee zu ziehen, auf jeden Fall gut war.
›Strahlender Apriltag voller Wunder und Blüten. Mit klarblauem Himmel erwachte der 1. April 1944‹, schrieb der Schaffhauser Bürger Erwin Nägeli in sein Tagebuch. Es waren die Zeiten, in denen die Schweizer ihre Neutralität genossen. Denn auf der anderen Seite der Grenze erschallte Tag für Tag der hässliche Sirenenton des Bombenalarms. Die Schaffhauser sahen von ihrem Marktplatz aus jeden Tag die Staffeln von Hunderten silbern glänzenden Flugzeugen mit deren tödlichen Frachten am nördlichen Horizont. Sie hörten das ferne Grollen der Explosionen und das Hacken der Bordwaffen. Waldshut, Blumberg, Singen – die deutschen Städte rund um ihre Heimat standen in Flammen. Doch im vermeintlich sicheren Schaffhausen ging alles seinen Gang. Die Friedenstaube im Rundbogen des Herrenackerviertels gurrte.
Doch um 11 Uhr desselben Tages sollte Erwin Nägeli tot sein und sich Schaffhausen mitten im Krieg befinden.
*
Zwei Tage zuvor war Joseph Stehle als Schaffner der Deutschen Reichsbahn wieder einmal über die Grenze von Singen nach Schaffhausen gefahren. Er hatte nur einen kurzen fahrplanmäßigen Aufenthalt und wollte diesen nutzen, um sein beachtliches Kapital, das er längst auf mehrere amerikanische Banken verteilt hatte, nach Argentinien zu transferieren. Er hatte gehört, dass seit Kriegseintritt der Amerikaner der Kapitalfluss auch aus der Schweiz nach Amerika streng überwacht wurde. Mehrere Milliarden waren schon über den großen Teich überwiesen worden. Kapital, das zum Teil vor den Nazis geschützt werden sollte, aber auch, so vermutete die US-Regierung, Nazigeld selbst.
*
Joseph Stehle hatte es nicht weit vom Bahnhof zu seiner Bank. Er drückte rasch die Klinke der Banktür und wollte eintreten. Doch gleichzeitig mit ihm drängte sich ein anderer vermeintlicher Kunde in den Geschäftsraum.
Der kleine Kassierer hinter dem Panzerglas schaute interessiert auf. Stehle achtete nicht weiter auf den zweiten Mann, schloss die Tür und ging zielstrebig auf den Kassierer zu. Barsch forderte er ihn auf: »Ich muss Direktor Wohl, den Junior, reden, schnell!«
Der Kassierer nickte untertänig und drückte auf einen Klingelknopf, der vor ihm in die Tresen montiert war. Dann blickte er auf den Mann neben Stehle, doch dieser sagte kein Wort.
»Mein Herr«, forderte der Kassierer ihn auf, seinen Wunsch zu formulieren, und schaute ihn direkt an.
Der Fremde aber blieb stumm. Er schien nur Augen für Stehle zu haben und beobachtete diesen unverhohlen.
Jetzt erst fiel der Mann auch Stehle selbst auf. Er war sehr jung, sicherlich keine 30 Jahre alt. Er hatte blondes, kurz geschorenes Haar, sodass die Haarspitzen sich kaum legen konnten. Sie standen, wie bei einer umgedrehten Bürste, auffallend steil nach oben. Sein Gesicht wirkte, trotz seines jugendlichen Aussehens, streng. Der Anzug, den er trug, schien teuer, sein Trenchcoat war salopp.
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