1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 Finanziell schien es Karoline ja wirklich ganz gut zu gehen. Sie fuhr ein eigenes Auto, und in dieser Wohnung, die sie offenbar allein bewohnte, war alles schicker und neuer als in Vickys Wohngemeinschaft, deren bunt möblierten Zimmern und der gemütlichen Küche, in der sie oft zusammen kochten oder mit Freunden bis tief in die Nacht klönten – aber irgendwie kam es Vicky hier auch ziemlich unpersönlich vor, und gemütlich war es schon gar nicht. Ob Karoline glücklich war? Sie sahen sich zu Ostern, an Weihnachten und zum Geburtstag ihrer Mutter, selten mal dazwischen. Im Grunde hatte Vicky keine Ahnung, wie es ihrer Schwester ging.
In einem kugeligen Glas auf dem Tresen zwischen Küche und Wohnraum zog ein einsamer Goldfisch seine Runden. So ein Fisch zur Dekoration – was für eine Tierquälerei! Schnell wechselte Vicky das Wasser für das arme Tier. Neben dem Goldfischglas lag ein aufgeklappter Laptop. Mias Handy fand sich in der Küche auf einer Arbeitsplatte neben dem Kühlschrank. Automatisch drückte Vicky den Home Button. Es waren keine neuen Nachrichten oder Anrufe eingegangen. Sie packte das Teil ein und ging zum Ausgang.
»Guten Morgen«, grüßte der große Mann, der aus der gegenüberliegenden Wohnung kam, als sie gerade die Wohnungstür abschloss.
»Guten Morgen«, murmelte Vicky.
»Ist Frau Frederiksen inzwischen zurück?«
Sie warf ihm einen prüfenden Blick zu. Er hatte dichtes dunkles Haar und einen Dreitagebart, sah eigentlich ganz freundlich aus. Aber was wollte der? Kannte er Karoline besser? Er bemerkte scheinbar ihr Zögern.
»Vorgestern Nachmittag ist mir die Mutter von Frau Frederiksen begegnet«, erklärte er. »Sie schien sich Sorgen zu machen, weil ihre Tochter nicht, wie verabredet, am Montag von einer Reise zurückgekommen ist. Deshalb frage ich.«
Ach stimmt, Mia hatte ja schon der ganzen Nachbarschaft ihre übertriebenen Befürchtungen mitgeteilt.
»Nein, Karoline ist noch nicht zurück. Aber das kommt öfter vor, dass meine Schwester ihre Pläne ändert und sich nicht meldet.«
»Ach so. Na dann …«
Der Nachbar zögerte kurz. Er schien nachzudenken. Schließlich sagte er:
»Mein Name ist Angermüller. Ich bin bei der Kriminalpolizei. Ihre Mutter schien mir sehr beunruhigt wegen des Ausbleibens von Karoline.«
Er holte eine Karte aus der Brusttasche seiner Jacke und überreichte sie Vicky.
»Sollte Ihre Schwester nicht bald auftauchen, kann Ihre Mutter sich gern bei mir melden, wenn sie vielleicht eine Vermisstenanzeige aufgeben will.«
Vicky schaute auf seine Karte. Zumindest sah die aus, als ob sie echt wäre. Aber eigentlich brauchte sie die nicht, denn natürlich würde Karoline bald zurückkommen, daran zweifelte Vicky nicht im Geringsten, und so bedankte sie sich nur kurz.
»Na dann tschüs, mein Kollege wartet. Einen schönen Tag für Sie«, verabschiedete sich der Nachbar.
»Danke, Ihnen auch«, entgegnete Vicky automatisch und las noch einmal genauer auf der Visitenkarte. »Kommissariat 1« stand da. War das nicht immer die Bezeichnung für die Mordkommission? Nahm dieser Polizist Mias übertriebene Befürchtungen etwa ernst, weil Karoline nichts von sich hören ließ und quasi verschwunden war? Auf keinen Fall würde sie Mia davon erzählen, denn dann würde die vollends durchdrehen.
Während sich Angermüller im Dienstwagen den Sicherheitsgurt anlegte, schweifte sein Blick zu der jungen Frau, die sich gerade vor dem Haus auf ihr Rad schwang. Sie schien sich nicht im Geringsten um den Verbleib von Karoline Frederiksen zu sorgen. Angermüller, der an den ihnen bevorstehenden Termin denken musste, an das noch nicht identifizierte Opfer, hoffte, dass ihr Optimismus angebracht war.
Nie wäre er darauf gekommen, dass dies die Schwester seiner Nachbarin sein könnte. Sie war viel kleiner, hatte wilde weißblonde Löckchen und trug sportlich-praktische Klamotten. Immerhin, eine gewisse Ähnlichkeit mit der Mutter konnte er feststellen – Größe, Figur und auch die Gesichtszüge glichen sich, wenn auch der Jüngeren die von Mia Frederiksen zur Schau getragene herausfordernde Fröhlichkeit fehlte.
»Nanu, was macht der denn schon wieder hier?«, murmelte Angermüller auf einmal.
»Wen meinst du?«
»Na, der Kerl, der da am Gartenzaun lehnt. Der scheint ein hartnäckiger Verehrer meiner Nachbarin zu sein. Der hängt unglaublich oft hier rum.«
Als der junge Mann mitbekam, dass Angermüllers Blick auf ihm ruhte, wandte er sich ab und ging schnellen Schrittes davon.
»Komischer Typ«, kommentierte Angermüller.
Gewohnt rasant legte Jansen den kurzen Weg zum Institut für Rechtsmedizin zurück, während vor Angermüller immer wieder das Bild seiner verschwundenen Nachbarin auftauchte. Die Frage, ob ihre Schwester Brustimplantate trug, hätte einiges klären können, doch wie hätte er die der jungen Frau stellen sollen, ohne sein Motiv zu erläutern? Und eigentlich wollte er sowieso nicht an so einen verrückten Zufall glauben.
Auf den Stufen zum Institutseingang trafen sie auf Staatsanwalt Lüthge.
»Guten Morgen«, erwiderte der den Gruß der Kommissare, »ich hätte mir gestern gern selbst ein Bild vom Tatort gemacht, aber wir stecken mitten in den Vorbereitungen für den Prozess gegen die Eltern des toten Babys …«
»Verstehe.«
Angermüller erinnerte sich, dass die sehr jungen Eltern den medizinischen Notruf gewählt hatten, um eine Totgeburt anzuzeigen, sich bei der Obduktion aber herausgestellt hatte, dass der kleine Junge lebend zur Welt gekommen war. Der Kommissar war froh, mit diesem bedrückenden Fall nicht näher befasst gewesen zu sein.
»Wir wissen bisher nicht, ob die Fundstelle in der kleinen Badeanstalt auch der Tatort ist«, erläuterte er dem Staatsanwalt, »aber vielleicht erfahren wir jetzt ja mehr.«
Jansen hielt ihnen die Tür auf, und wenig später standen die beiden Polizisten mit Lüthge im Sektionsraum, wo Steffen von Schmidt-Elm, Maike Witt, die neue Rechtsmedizinerin, und ein Assistent den durch die Hitze so schrecklich entstellten Körper vermaßen und wogen, oder besser das, was davon übrig war.
Wie immer war es einer der Termine, auf die Angermüller gern hätte verzichten können. Zeuge der Prozeduren in der Rechtsmedizin zu werden, empfand er als echte Zumutung. Mittlerweile bereitete er sich stets bewusst darauf vor, frühstückte am Morgen vor der Obduktion sehr bescheiden mit Knäckebrot und Tee und hatte damit seinen Magen ganz gut im Griff. Außerdem trug er an so einem Tag einen dicken Schal oder ein Tuch, um sich gegebenenfalls gegen die üblen Gerüche zu schützen. Meist allerdings brachte das nicht viel, so wie heute.
Roch es sonst oftmals faulig, süßlich, wenn ein gräulich aufgedunsener Körper auf dem Tisch lag, hing heute ein ausgeprägter Gestank nach verbranntem Fleisch in der Luft, nach Kohle, irgendwie bitter. Doch auch diese Duftnote war ein sehr unangenehmes Gemisch für Angermüllers Nase.
Schmidt-Elm und seine neue Kollegin, eine sehr große, sehr schlanke Frau mit kurzen blonden Haaren, arbeiteten konzentriert Hand in Hand, verständigten sich mit Blicken und Gesten, nur ganz selten fiel ein Wort. Für Angermüller verging die Zeit quälend langsam, aber irgendwann, mehr als eine Stunde war um, kam Steffen zu einem ersten Resümee.
»Der menschliche Körper brennt nicht so leicht und in diesem Fall auch nicht so lange, ich nehme an, maximal 15 Minuten. Der oder die Täter hatten sich von dem Feuer sicherlich mehr versprochen, wahrscheinlich das Vernichten des Körpers bis zur berühmten Unkenntlichkeit. Was wir bisher wissen: eine junge Frau, schlank, ein Meter 75 groß, wahrscheinlich langes Haar. So, unser Paul hat den Schädel bereits von der Kopfhaut befreit und wird ihn jetzt entlang der Hutkrempenlinie eröffnen.«
Mit fröhlichem Gesicht waltete der Präparator seines Amtes und entfernte mit der Handsäge die Schädeldecke. Der junge Mann hatte vor einiger Zeit seine weibliche Vorgängerin ersetzt, die vor allem durch ihre ausdauernd schlechte Laune aufgefallen war. Paul war das genaue Gegenteil, was Angermüller angesichts des Umfelds und der Tätigkeit immer noch ziemlich irritierte.
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