Jansen sagte nichts, sah nur aufmerksam in den Rückspiegel, blieb konsequent auf der linken Spur und ließ alle anderen Fahrzeuge weit hinter sich. Angermüllers erster großer Einsatz seit einem Dreivierteljahr. Er verspürte eine merkwürdige Anspannung, fast so etwas wie Lampenfieber. Nach ungefähr 20 Minuten wechselten sie von der Autobahn auf eine Bundesstraße, bis sie schließlich auf einer schmalen Landstraße landeten, die durch einen dichten Laubwald führte. Als rechts vor ihnen ein heller Lichtschein durch die Bäume schimmerte, hatten sie ihr Ziel erreicht.
Jansen lenkte ihren Wagen an den Straßenrand hinter die bereits hier parkenden Fahrzeuge, und die Kommissare stiegen aus. In den hohen, winterkahlen Bäumen rauschte leise der Wind. Es roch nach feuchter Erde und moderndem Laub. »Seebadeanstalt« stand auf einem Schild. Sie folgten dem unbefestigten Weg, und nach ein paar Schritten tauchten vor ihnen mehrere Flachbauten auf, in deren Mitte sich ein Durchgang öffnete, der mit Flatterband versperrt war. Zwei uniformierte Kollegen hielten Wache, um Unbefugte am Betreten des Geländes zu hindern. Vor ihnen stand ein einzelner Mann mit einem Hund an der Leine, rauchte, redete und reckte neugierig den Hals. Die Kommissare grüßten, und der eine Polizist musterte Angermüller und Jansen skeptisch, hob aber beim Anblick ihrer Dienstausweise wortlos das Absperrband und ließ sie passieren.
»Moin! Der Herr hier hat uns den Fund gemeldet«, meldete sich sein jüngerer Kollege zu Wort und deutete auf den Hundefreund, »wollen Sie mit dem sprechen?«
»Klar, wir werfen aber erst mal einen kurzen Blick«, gab Jansen zurück und folgte Angermüller auf den Platz hinter dem Durchlass, den zwei große Scheinwerfer erhellten. Am Ende des Gebäudes, das augenscheinlich Umkleidekabinen beherbergte, und vor einem dichten Gebüsch kauerte ein Mensch im weißen Schutzanzug, ein zweiter suchte den Boden ab, und etwas entfernt davon umrundete ein dritter die Szene mit einer Kamera und verteilte Markierungsschilder.
Der Bau zur Linken beherbergte ein Café und war, genau wie die Badeanstalt, im Winterhalbjahr geschlossen. Davor lag außerhalb der Scheinwerferkegel eine Rasenfläche, hinter der im Dämmer das Wasser des Sees glitzerte, in den ein langer Steg führte, von dem jetzt nur die Umrisse zu erkennen waren.
Unwillkürlich war Angermüller stehen geblieben, um sich einen ersten Eindruck von der Szenerie zu verschaffen. Im Sommer war dies hier sicher eine beliebte Badestelle voller Erholungssuchender und planschender Kinder, aber um diese Jahreszeit ein sehr einsamer Platz. Und genau deshalb hatte sich jemand diesen Ort ausgesucht, um etwas zu tun, das niemand bemerken sollte. Er straffte sich und sah zu Jansen, der ebenfalls neben ihm verharrt hatte.
Als sie dem weiß gekleideten Grüppchen näherkamen, erkannte Angermüller seinen Freund Steffen. Der Kommissar war freudig überrascht, denn er hatte nicht damit gerechnet, dass der Rechtsmediziner heute schon wieder seinen Dienst versehen würde. Erst am Vorabend war er von einer ausgedehnten Asienreise mit seinem Mann David zurückgekehrt, weshalb er auch bei Heinis Trauerfeier gefehlt hatte. Angermüller jedenfalls freute sich auf die Zusammenarbeit mit Steffen, der ruhig und präzise agierte und ein echter Meister seines Fachs war. Woran genau der Rechtsmediziner gerade arbeitete, konnte er auf die Entfernung nicht erkennen.
»Stopp! Hier wird mir nicht durchgelatscht. Geht gefälligst da außen rum«, schnauzte der vor ihnen kniende Kriminaltechniker die beiden Kommissare an, »ihr müsst ja nicht noch mehr kaputt trampeln. Der Scheißregen heute Nacht hat sowieso kaum was übriggelassen.«
»Hallo, Andreas, schön, dass wir mal wieder zusammenarbeiten dürfen«, grüßte Angermüller den Mann. Natürlich bekam er keine Antwort. Verbissen fuhr der Kollege fort, am Boden nach Hinweisen zu suchen, die mit dem Leichenfund in Verbindung gebracht werden konnten, was angesichts des durchweichten Rasens ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen war. Jeder hier wusste aber, dass die üble Laune von Andreas Meise nicht am Wetter lag, sondern sein persönliches Markenzeichen war.
»Mann, Ameise wieder. Das Genöle geht mir echt auf die Ketten. Als ob wir was für den Regen könnten«, brummte Jansen.
»Der ändert sich nicht mehr, Claus. Ich hör da gar nicht mehr hin. Ist vergeudete Energie, sich über Ameise zu ärgern. Hauptsache, er macht seine Arbeit ordentlich. Und da kann man ja nicht viel meckern«, meinte Angermüller leise, denn seinen Spitznamen durfte man Andreas Meise – klein von Gestalt, ein penibler Erforscher des Bodens an Fund- und Tatorten, und mit einem Schild »A. Meise« an seiner Bürotür – schon gar nicht hören lassen.
Mit einem freundlichen »Hallo, Kollegen« begrüßte Mehmet Grempel, ein weiterer Kriminaltechniker, um einiges jünger als Ameise, die Kommissare, während er ein Fundstück in einer verschließbaren Plastiktüte sicherte.
»Dein Urlaub schon wieder vorbei?«, fragte Angermüller.
»Tja, geht immer verdammt schnell. Aber hab eh nur meine Bude renoviert und war übers Wochenende mal in Coburg.«
»Ach, in der alten Heimat. Schön.«
Mehmet und der Kommissar stammten aus der gleichen Gegend in Oberfranken.
»Ich hab dir auch was mitgebracht. Kriegst du morgen«, verkündete Mehmet mit geheimnisvollem Lächeln.
»Oh, womit hab ich das verdient? Da bin ich ja gespannt«, freute sich Angermüller, »Und, hast du hier was Interessantes gefunden?«
»Was gefunden, ja. Eine Plastikkappe, wahrscheinlich von einem Kanister. Ob das interessant ist, wird sich noch rausstellen. Kleidung und sonstige persönliche Gegenstände leider bisher Fehlanzeige.«
Angermüller und Jansen waren an der äußeren Ecke der mit Steinplatten ausgelegten Umrandung vor den Umkleidekabinen angelangt, wo Doktor Steffen von Schmidt-Elm hockte und konzentriert seiner Arbeit nachging. Erst jetzt konnten die Kommissare ausmachen, was vor dem Rechtsmediziner lag. Beide stoppten gleichzeitig und starrten auf das gespenstisch anmutende Wesen. Der Anblick löste bei Angermüller mehr als Unbehagen aus. Schließlich räusperte er sich.
»Grüß dich, Steffen! Noch gar nicht richtig angekommen, schon wieder im Dienst.«
»Wat mutt, dat mutt. Grüß dich, Schorsch, hallo, Jansen.«
Mit einem kurzen Lächeln begrüßte Schmidt-Elm die Kommissare. Er war der Einzige hier, der die fränkische Version von Angermüllers Vornamen benutzte.
»Puh, schon ein bisschen heftig als Wiedereinstieg«, meinte Angermüller mit Blick auf die menschlichen Überreste, an denen Steffen gerade erste Untersuchungen vornahm: ein schwarzer Schädel ohne Haare, der Mund mit seinen zwei Reihen Zähnen geöffnet wie zu einem Grinsen, die schwarzen gebeugten Arme wie gestikulierend in die Luft gereckt.
»Da stimme ich dir zu«, bestätigte Steffen und rückte seine Lesebrille zurecht.
»Magst du schon irgendwelche Erkenntnisse weitergeben?«, fragte Angermüller, auch wenn er befürchtete, dass es noch nicht viel sein konnte, und der Rechtsmediziner es ohnehin vorzog, seine Befunde erst durch die Obduktion zu verifizieren.
»Ich kann euch nur zum Offensichtlichen etwas sagen. Man gedachte, diesen Körper zu verbrennen, was sehr hohe Temperaturen, gute Belüftung und einen wirksamen Brandbeschleuniger in ausreichender Menge benötigt. Davon hat man sicher was auf das Opfer geschüttet, am Kopf angefangen, der ja sehr stark betroffen ist. Auch der Oberkörper wurde damit übergossen, und da es sich um eine schlanke Person handelt, haben wir diese typische sogenannte Fechterstellung aufgrund der durch die Hitze verkürzten Muskeln und Sehnen.«
Steffen wies auf die so geisterhaft ins Leere greifenden Arme des Leichnams.
»Doch insgesamt reichte die Menge Brandbeschleuniger nicht aus, denn wie ihr seht, ist der Körper von den Knien abwärts noch einigermaßen unversehrt.«
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