»Wenn Sie einmal schauen möchten …«
Der Rechtsmediziner hob die Gehirnschale an.
»Wir haben am hinteren Schädel zwei recht nah beieinander liegende geformte Brüche, verursacht durch äußere Gewalteinwirkung. Da diese oberhalb der Hutkrempenlinie liegen, sind sie nicht mit einem Sturz auf ebenen Boden zu erklären. Sie stammen wahrscheinlich von einem Schlag mit einem harten, kantigen Gegenstand, vielleicht so etwas wie eine große Rohrzange oder ein Scherenwagenheber. Und sehen Sie: Die massiven Schläge gegen den Kopf haben ein großes Epiduralhämatom verursacht, zu erkennen an dieser spindelförmigen Blutansammlung zwischen der harten Hirnhaut und dem Schädelknochen.«
Mit einer Pinzette deutete von Schmidt-Elm auf die entsprechende Stelle und gab dann dem Präparator ein Zeichen. Der trat näher, entnahm vorsichtig das Gehirn und brachte es zur Waage.
»Noch eine wichtige Information, bevor wir den Brustkorb eröffnen«, begann Steffen, »bereits am Fundort hatte ich ja festgestellt, dass das Opfer Brustimplantate trug. Das linke ist durch die Hitzeeinwirkung geplatzt, das rechte nur angeschmolzen. Die Wirkdauer des Feuers hat nicht ausgereicht, um die Kunststoffteile komplett zu zerstören. Dann wollen wir mal, Frau Witt, bitte.«
Die junge Kollegin musste ein wenig Kraft aufwenden, da das Material am Brustkorb haftete, dann hob sie vorsichtig mit ihrer Pinzette ein durch Hitzeeinwirkung leicht verformtes, mit Ruß überzogenes Kunststoffteil ab und hielt es für alle sichtbar in die Höhe. Als Doktor Maike Witt zum ersten Mal das Wort ergriff, war Angermüller erstaunt, wie laut und vor allem wie tief ihre Stimme war.
»Hier, auf der Rückseite findet sich noch gut erkennbar die Hersteller- und Seriennummer, anhand derer man relativ einfach den Hersteller ausfindig machen kann. Über die Seriennummer findet man dann die Klinik, in der der Eingriff vorgenommen wurde, und schließlich auch bei wem.«
Ja, das erleichterte wirklich ihre Nachforschungen, dachte Angermüller. So würden sie viel zügiger die Identität des Opfers aufdecken können, als wenn sie mit dem Zahnstatus und der aufwendigen Nachfrage bei Zahnärzten hätten arbeiten müssen.
»Da ein Brustimplantat nur volljährigen Personen eingesetzt wird, ist die junge Frau also mindestens 18 Jahre alt«, fuhr Maike Witt fort, »vom Zustand der Weisheitszähne her, und da die Wachstumsfugen am Schlüsselbein noch nicht ganz geschlossen sind, grenzen wir das Alter unseres Opfers zwischen 20 und 21 Jahre ein.«
Steffen nickte zustimmend und griff zur Rippenschere, um den nächsten Schnitt in Angriff nehmen. Währendessen bewegten sich Angermüllers Augen unruhig hin und her, auf der Suche nach einer Ablenkung vom Geschehen auf dem Obduktionstisch. Sie blieben an der jungen Rechtsmedizinerin hängen, die mit interessierter Miene das Geschehen beobachtete, bereit, bei Bedarf einzugreifen.
Doch mehr noch als der Anblick auf dem Tisch war es vor allem das knirschende Geräusch der Schnitte, das Angermüller irritierte. Wie beim Tranchieren einer knusprig gebratenen Gans, ging es ihm durch den Kopf. Oh Gott, was für einen schrägen Gedanken hab ich da! Inständig sehnte der Kommissar das baldige Ende dieser schaurigen Vorführung herbei.
»So, Paul hat das Gehirn in Scheiben geschnitten. Die im Hirngewebe sichtbaren Kontusionsblutungen sind definitiv vital durch stumpfe Gewalteinwirkung entstanden. Mit anderen Worten steht fest, dass das Opfer durch Schläge gegen den Hinterkopf zu Tode gekommen ist und man mit der anschließenden Verbrennung versucht hat, sämtliche Spuren zu löschen.«
»Können Sie etwas zum Todeszeitpunkt sagen?«, wollte Staatsanwalt Lüthge wissen.
»Tut mir leid«, gab Steffen Auskunft, »durch die Hitzeeinwirkung werden Totenflecke auch an den abhängenden Körperpartien, die nicht verkohlt sind, hitzefixiert, und die eigentlichen Aufliegeflächen weisen ja keine Totenflecke auf. Temperaturmessung ergibt hier ebenfalls keinen Sinn. Klar ist nur, dass sie wohl mindestens seit gestern dort gelegen hat, denn der Leichnam war vom Regen in der Nacht von vorgestern auf gestern durchnässt.«
Erleichtert, dem Sektionsraum mit seiner schauerlichen Szenerie entkommen zu sein, standen Angermüller und Jansen mit Staatsanwalt Lüthge vorm Institut für Rechtsmedizin. Das Grau der vergangenen Tage hatte sich verzogen, es war ein klarer, sonniger Märztag. Immer noch wehte ein eisiger Wind. Bevor sich Lüthge verabschiedete, versprach er, sich schnellstmöglich um eine richterliche Anordnung für die Herausgabe der Daten des Herstellers der Brustimplantate und des Krankenhauses zu bemühen, das den Eingriff vorgenommen hatte. Sie alle hatten ein Interesse daran, möglichst frühzeitig die Identität des Opfers zu erfahren, die sie hoffentlich zu einem konkreten Ermittlungsansatz führen würde.
»Und jetzt fahren wir zum See und schauen, ob nicht jemand was von dem Feuer mitbekommen hat, oder, Claus?«
Jansen zeigte zum Einverständnis seinen hochgereckten Daumen.
»Aber vorher muss ich was essen, sonst kipp ich aus den Latschen. Hab heute Morgen nix gefrühstückt.«
»Mmh, ich hatte auch nur trockenes Knäckebrot zum Tee …«
Angermüller sah auf die Uhr. Ja, er war einem kleinen Imbiss nicht abgeneigt, aber seit der Obduktion hatte er den Kopf voller Fragen. Eine junge Frau um die 20, die an ihrem Körper Eingriffe zur vermeintlichen Optimierung hatte vornehmen lassen – was hatte sie sich davon erhofft? Schon im nächsten Jahr würden seine Töchter volljährig. Welche Wünsche würden sie sich erfüllen, wenn sie alles selbst entscheiden konnten? Was wohl war das Ziel der jungen Frau gewesen, die so abrupt aus dem Leben gerissen worden war, und für die es nun keine Träume, kein Ziel, keine Zukunft mehr gab.
»Wat is? Hast du etwa keinen Hunger?«, riss ihn Jansen aus seinen Grübeleien.
»Doch, doch. Lass uns mal über Niendorf fahren, so eilig haben wir’s ja nicht.«
»Also Fisch zum Frühstück is ja nich so meins«, brummelte Jansen, der die Vorlieben seines Kollegen kannte, »auch wenn ich ab und zu schon mal welchen esse.«
Das ewige Thema bei ihren gemeinsamen Mahlzeiten. Trotz einiger Lernfortschritte aufgrund der Küche seiner Freundin Anja-Lena und Angermüllers sanfter Versuche von Geschmackserziehung, bevorzugte Jansen nach wie vor Deftigkeiten mit Fleisch, gerne in Form von Burgern oder Currywurst.
»Ach, Claus, du kennst mich doch.«
»Eben drum.«
»Komm, ich bin doch immer kompromissbereit. Wenn du jetzt nicht gerade ein Frühstück mit Marmeladenbrötchen willst, kommst du bestimmt auf deine Kosten, das garantier ich dir.«
Die Kommissare sprachen nicht, während sie den Weg aus der Stadt nahmen. Sie durchquerten den Herrentunnel, tauchten wieder in die helle Sonne und verließen bei Travemünde die Bundesstraße. Durch kleine Ortschaften, vorbei an Feldern und Wiesen, rollten sie nach Norden. Die Bäume und Büsche am Straßenrand umgab ein zarter grüner Schein, der den Frühling ahnen ließ.
»Du sachst ja gar nix«, bemerkte Jansen, der, wie meist, den Wagen lenkte, »was geht dir denn so durch den Kopf?«
Jansen selbst war kein Schnacker und stolz darauf, doch die andauernde Schweigsamkeit seines Kollegen, der sich sonst gern austauschte, schien ihn heute zu irritieren.
»Findest du das eigentlich normal, dass eine so junge Person Brustimplantate trägt?«, fragte Angermüller statt einer Antwort.
»Tscha«, machte Jansen und kaute auf seiner Unterlippe, »hört man ja öfter, dass die Leute sich immer jünger unters Messer legen – und nicht nur die Mädels.«
»Ja, stimmt. Die folgen irgend so einem Körperoptimierungswahn, wollen absolut perfekt sein und lassen einfach korrigieren, was ihnen nicht gefällt. Und wahrscheinlich glauben sie auch noch, mit einer neuen Nase oder einem strafferen Po wären alle Probleme ihres Lebens gelöst.«
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