Für Martin waren dies unglaubliche Dinge, die er da hörte. Gott in seinem Inneren. Wie kühn! Seine Mutter hätte sich bekreuzigt, und von seinem Vater hätte er eine Backpfeife erhalten, wenn so etwas aus seinem Mund gekommen wäre.
Sie liefen an großen Waidspeichern vorbei, hörten den Bierrufer die Brauhäuser, die Ausschank hatten, ausrufen: »Ein wohlfeil Bier gibt’s im Bären zu saufen und ist für ein paar Heller zu kaufen«, und erreichten den Platz vor den Graden. Sie sahen das Trillhäuschen, das auch leer unheimlich war. Martin hatte schon einmal eines mit einer Frau darinnen gesehen, die von den Leuten bespuckt und mit Unrat beworfen wurde. Einige Jungs hatten eine Freude daran gehabt, den Käfig anzuschubsen und wie ein Karussell schneller und schneller in Drehung zu versetzen. Die Frau war kreidebleich gewesen, ihr weißes Hemd gelb getränkt von den Gallensäften, die ihr dabei hochgekommen waren. Dieses hier drehte sich leise quietschend nur ein wenig mal nach links und mal nach rechts. Sie schauten sich den Hebearm mit dem Korb über dem Flusslauf für die Wasserprobe von Hexen an. Auch er bewegte sich leicht knarrend mit jeder Brise auf und ab oder zur Seite. Ganz nah befand sich das Gerichtshaus mit der Justicia als steinerne Figur vor dem Eingang.
»Eine Hinrichtung findet einmal im Monat statt, mindestens. Es ist ein riesiger Volksauflauf. Widerwärtig, wenn ihr mich fragt. Diese Gaffer, die vor Schadenfreude und Hass vergessen, wie schnell auch sie dort landen könnten.«
Martin und Alexis nickten angeekelt, wenngleich auch sie sich zu den ehrfürchtig Schaulustigen zählen würden.
»Na ja, zum Bischofssitz im Dom muss ich nichts sagen. Dort hinten, links neben dem Dom, ist die Frauengasse mit einem recht großen Frauenhaus, wo die Mumen nicht nur weltliche Herren glücklich machen.« Lang schüttelte den Kopf. »Daneben ein Findelhaus – passend, denn es geht nicht immer ohne Nachwuchs aus. Und weit und breit nur Gasthäuser: Die Hohe Lilie neben der Grünen Apotheke, auf der anderen Seite die Rote Flasche – das sind die zwei größten Wirtshäuser hier am Platz.«
Dann zeigte er in Richtung der Andreaskirche, als sie in die Breite Gasse abbogen. »Das Andreasviertel ist das Viertel der Handwerker und Bauern. Sie versorgen auch das große Benediktinerkloster auf dem Petersberg.« Am Fischmarkt blieb er stehen. »Hier seht ihr das Rathaus mit dem Gefängnis, das ›Paradies‹ genannt wird. Da drüben sind die Burse zum Löwenstein und das große Gasthaus Ratskeller, wo es das gute Einbecker und Naumburger gibt. Freitags kann man hier Fisch kaufen. Das soll erst einmal reichen. Meine Kanne Bier fordere ich ein anderes Mal ein. Ich muss noch mal zurück zur Schlösserbrücke, ihr geht dort vorne auf der Via Regia weiter durch die Michaelisstraße.«
Martin und Alexis bedankten sich und gingen, sich angeregt über alles unterhaltend, zu ihrer Unterkunft zurück. Es war inzwischen kurz vor acht.
Nach den ersten Tagen der Orientierung sollten sich alle Studenten in ihren jeweiligen Bursen melden, und Alexis schlug vor, dass Martin und er diesen Gang doch gemeinsam erledigen könnten. Von der Studentengasse führte gleich links hinter dem Universitätsgelände eine schmale Holzbrücke über die Gera an einer Mühle vorbei. Der Fluss war hier künstlich in zwei schmale Arme unterteilt worden, damit das Wasser mit mehr Druck fließen und so mehrere Mühlräder gleichzeitig antreiben konnte. Rechts lag die Armenburse mit ihrem ausladenden Obergeschoss direkt am Fluss und geradeaus ging es über die nächste Brücke an der Schildchensmühle vorbei. Vor sich sahen Martin und Alexis das kleine Haus zum Handschuh und auf der Ecke den stattlichen Kompturhof des deutschen Ritterordens. Sie liefen links den Fluss entlang und gelangten so direkt auf die Lehmannsbrücke, auf der um diese Zeit die Händler ihre Stände aufgebaut hatten. Daneben befand sich ein Nonnenkloster der Zisterzienserinnen und dem gegenüber die Brückenkopfkirche St. Nikolai mit ihrem hohen Kirchturm, der wie der Turm der Allerheiligenkirche als Wachturm fungierte. Die Burse war nicht zu übersehen. Es war ein langer Bau hinter der Brücke, vor dem ein paar ältere Studenten standen. Sie traten näher an das Grüppchen heran.
»Seid gegrüßt, wir sind neu an der Universität und kommen beide aus Mansfeld. Wir möchten uns melden«, sagte Martin.
Einer der Studenten reagierte zuvorkommend: »Folgt mir. Ich bringe euch zum Bursenmeister.«
Auf ihrem Weg ins Gebäude wurden sie von unauffälligen, aber interessierten Blicken begleitet.
Der Bursenleiter hatte eine kleine Amtsstube gleich rechts hinter dem Eingang. Er erwartete die Neuen schon.
»Nur herein. Wen haben wir denn da?«
Alexis übernahm die Antwort: »Die beiden Mansfelder, Martin Ludher und Alexander Schmied.«
Der Bursenleiter schaute sie an, dann auf sein dickes Buch, in dem er seine Bewohner eintrug. »Martinus und Alexius … In der Burse wird für gewöhnlich Latein gesprochen. Das dürfte kein Problem sein, oder? Ja, hier habe ich Euch. Seid willkommen. Ich zeige Euch gleich Eure Betten. Im Sommersemester werdet Ihr um vier Uhr morgens geweckt, im Wintersemester um fünf. Der Tag beginnt mit Gebeten und Lektionen. Um zehn Uhr gibt es die erste Hauptmahlzeit. Dann folgen weitere Lektionen, Übungen und was sonst auf dem Lehrplan steht. Die zweite Hauptmahlzeit ist um vier Uhr nachmittags, danach ist frei. Frei, um zu lernen, zu musizieren oder gar zu arbeiten. Ich rate Euch, tut etwas Sinnvolles! Im Sommer schließe ich die Burse um acht Uhr dreißig, im Winter um acht Uhr ab. Weiblicher Besuch ist nicht gestattet. Während der Mahlzeiten wird geschwiegen. Im Wechsel liest jeweils ein Student aus der Bibel vor.«
»Das ist ja wie im Kloster«, zischte Alexis Martin zu, als der Bursenleiter aufstand, um sie zu ihren Kammern zu führen.
»Genau, fast wie im Kloster.« Der Mann schien ein feines Gehör zu haben. »Ohne Sitte und Ordnung lässt es sich nicht gut studieren. Eure Eltern zahlen einen hohen Obolus, um Euch zu feinen und gebildeten Männern formen zu lassen. Wir bemühen uns, dem Vertrauen, das Eure Eltern in uns haben, gerecht zu werden.«
Im zweiten und dritten Stock befanden sich die Schlafkammern. Wie in den anderen Zimmern auch gab es in ihrem Raum zwei Doppelstockbetten, vor denen jeweils ein Vorhang als Sichtschutz angebracht war. In der Mitte der Kammer stand ein großer Tisch mit vier Stühlen, des Weiteren war an der Wand ein Bücherregal angebracht und hinter einem Vorhang eine lange Kleiderstange, an der schon ein Talar, ein Umhang, ein paar Hemden und Hosen hingen. Ein Zimmergenosse schien schon eingezogen zu sein.
»Crotus Rubeanus aus Dornheim wird noch erwartet. Euer anderer Zimmergenosse ist Hieronymus Buntz aus Windsheim.« Er drehte sich zu ihnen um. »Es ist Sitte, um in den Kreis der älteren Studenten aufgenommen zu werden, sich der Deposition beanii zu unterwerfen. Ihr wisst, was ›beanus‹ heißt?«, er schaute sie fragend an.
»Handwerksgeselle … der nicht freigesprochene Handwerksgeselle«, erwiderte Martin nach kurzem Überlegen eifrig.
»Richtig! Sehr gut! In Eurem Fall der ungetaufte Student. Es ist Brauch an den Universitäten, den Beanen einer Ablegung seines Beanenstandes zu unterziehen. Eine kleine Demutsübung. Ihr müsst erkennen, dass Ihr nichts wisst. Noch nichts. Deshalb studiert Ihr. Diese zugegebenermaßen etwas rohe Prozedur wird am Sonntag stattfinden. Wir wollen den Lehrbetrieb nicht stören.« Er lächelte, wie Martin fand, leicht sarkastisch und überließ die beiden sich selbst.
Alexis schaute Martin verzweifelt an. »Was wird das werden? Und ab sofort nur noch Latein.«
»Übung macht den Meister … Sicher wird das Lateinische durch den täglichen Gebrauch besser und besser, und schließlich werden wir viel Latein lesen. Gerade im ersten Teil der Sieben Freien Künste, dem Trivium: Grammatik, Rhetorik und Dialektik!«
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