„Was willst du trinken?“
„Irgendeinen Energydrink. Ich muss zu mir kommen“, meinte Spade, schob die Glastür auf und schon wehte ihm die kühle Morgenluft ins Gesicht und umspielte es mit angenehm kühlen Fingern. Pia trat ebenfalls hinaus und reichte ihm die Dose, die Spade mit einem Zischen öffnete.
„Wer macht so was überhaupt?“, fragte sie. „Mein Vater würde das nie tun.“
„Du kennst doch diesen asiatischen Gemischtwarenladen?“, fragte Spade. „Den mitten in der Stadt?“ Pia nickte. „Klar. Die Asiaten machen das?“
„Nein, Doktor David S. Steinmann macht das. Lass dir doch bei ihm die Narben nachziehen. Da brauchst du kein Gemüsemesser. Der hat ein Skalpell.“
„Wie sieht er aus?“
„Wie ein Bürokrat oder ein Mathelehrer. Ein langer Kerl mit einem Pokerface und einer schmalen Brille.
Sagt nicht viel, aber was er sagt, ist direkt und auf den Punkt gebracht.“
„Zum Beispiel?“
„Ich wachte auf seinem Sofa aus. Er hat nur einen einzigen Behandlungsraum, ganz hinten im Gebäude. Muss mich irgendwie hoch in die Wohnung getragen haben. Er wartete, bis ich wach war, und trank Wein. Ich wollte auch was. Da sagte er, dass ich sterben würde, wenn ich jetzt Alkohol zu mir nehmen würde.“
„Klingt interessant. Und der versaut Gesichter?“
„Ganz genau“, meinte Spade, lehnte sich gegen das Geländer, nahm einen Schluck aus dem sprudelnden, sauer-süßen Energydrink und schaute in die orangefarbene Morgenstimmung und die kühlen, schattigen Gassen hinab.
„Schau dir die glänzenden Autos und die vielen Menschen da unten an.“
„Ich schaue eher in die Ferne, die Stadt, die Skyline. Die ist am Morgen und in der Dämmerung besonders schön.“
„Die da unten wissen überhaupt nichts. Ich meine, das ist ein ganz neuer Schritt, weißt du? Wir werden einfach in diese Welt geboren, ob wir wollen oder nicht. Und nicht nur das. Sie formen uns nach ihrer Vorstellung. Geben uns Talente, die wir nicht wollen, nur damit wir ihre Träume leben können und unsere eigenen dann ihnen gleich auf unsere Kinder projizieren können. Und sie denke nicht nur, dass sie uns was Gutes tun, nein, sie denken, sie tun das Richtige . Mal sehen, wie sie mit meinem neuen Gesicht klarkommen.“ Wie ein Tornado wandte er sich um und Pia wich zurück. „Ich habe mein Gesicht neu geformt! Das ist mehr als die meisten können, Pia.“ Er kam ihr wieder verdammt nahe und strich liebevoll durch ihr Haar.
„Ben, jetzt komm endlich klar!“, rief sie. „Langsam müsste das Scheißbetäubungsmittel doch nachlassen, oder hat dir jemand ins Hirn geschissen?!“
„Spade“, korrigierte dieser, wich leicht zurück und lehnte sich an das Geländer. „Ich will Spade heißen. Es ist mein gutes Recht, mich zu nennen, wie ich will, oder etwa nicht?“
„Meinetwegen, solange du langsam klarkommst.“
Spade umklammerte das Geländer, beugte sich hinüber und schaute in die Tiefe. „Das sind nicht nur die Reste der Narkose: Das ist auch, was ich geschafft habe! Ich bin völlig high, berauscht vom Gefühl des Sieges!“ Er drehte sich um. „Das ist, als hätte man Gott überlistet und er könnte nichts dagegen tun! Scheiße, versuch dich mal hineinzuversetzen! Was hast du gefühlt, als du dir das Gesicht zerschnitten hast? Da war nicht nur Schmerz, der war nur oberflächlich, stimmt’s? Das ist das gleiche Gefühl wie als Kind, wenn du es endlich geschafft hast, zu gewinnen, nachdem du unzählige Runden irgendeines Spiels immer und immer wieder verloren hast. Auch wenn es eins zu zwanzig für dich steht, es ist dieser eine Sieg.“ Er hob den rechten Zeigefinger, um seine Worte zu verdeutlichen. „Dieser eine Sieg ist einfach mehr wert als die zwanzig Niederlagen, ganz einfach weil es dein Sieg ist!“
Pia packte ihn am Kragen und drückte ihre Lippen gegen seine. Als sie sich löste, meinte sie lächelnd: „Du hast auch schon mal besser geküsst.“
Spade versuchte zu lächeln. Sein Mund zuckte aber nur. „Hab Nachsicht, mein Gesicht ist im Eimer.“
„Mein’s doch auch, aber meine Lippen funktionieren noch. Und jetzt mach, dass du rauskommst, ich habe noch zu tun“, befahl sie, immer noch lächelnd.
Er trank die Dose auf ex und stellte sie auf dem Weg nach draußen auf einem der Schränke ab.
„Das ist echt gewöhnungsbedürftig“, meinte Pia, als sie wieder an der Tür waren.
„Klar. Was hat dein Vater zu deinem Gesicht gesagt?“
„Hat es noch nicht gesehen.“ Spielerisch lächelte sie.
„Wir sehen uns?“
„Du bist nicht mehr zu übersehen“, meinte Pia.
„Oder zu ignorieren. Passive Aufdringlichkeit“, entgegnete Spade, während Pia die Tür schloss.
Nun stand er draußen in der Dunkelheit des Treppenhauses und hob eine Hand. Eines von Pias dünnen, blonden Haaren klebte daran.
Drinnen ging Pia zum Balkon und war sich noch immer nicht sicher, ob sie Spades neues Gesicht mochte. Sie lehnte sich auf das Geländer und sah hinunter zu dem hellen Beton der Stadt, sah, wie Spade ging und noch einen Blick zu ihr hinaufwarf. Pia hob lächelnd die Hand und winkte. Wahrscheinlich sah Spade sie nicht mal, denn er winkte nicht zurück, sondern ging weiter. Pia sah ihm nach, während der Wind, wie Spade es getan hatte, mit kühlen Fingern durch ihr Haar griff und an ihren rasierten Schläfen entlangstrich.
„Was hast du dir nur dabei gedacht?“
Spade stand an diesem Morgen im kleinen Innenhof des Restaurants. All die Stühle waren noch auf den Tischen und die Tische noch nicht mal im Hof mit den von Efeu bewachsenen Mauern. Hinter den Glastüren huschten schon wirtschaftenden Gestalten umher. Die Umrisse waren schemenhaft wie von nachtaktiven Tieren. Herr Schmitt schaute zu seinen schwarzen, glänzenden Schuhen. Die Ärmel hochgekrempelt, stand der kleine Mann mit zurückgekämmtem schwarzem Haar vor dem großen Mann, Spade. Er schüttelte unentwegt den Kopf.
„Was hast du dir verdammt noch mal dabei gedacht?“ Er klopfte die Asche von der glimmenden Kippe. „Du bist Kellner, verdammt! Weißt du, was das Wichtigste an einem Kellner ist, außer seinen Fähigkeiten? Sein Gesicht! Soll den Gästen der Appetit vergehen? Wir sind ein Scheiß-Fünf-Sterne-Restaurant! Bei uns essen Promis!“
Wieder schüttelte er den Kopf und hoffte, dass Spade sich das Gesicht wie eine Gummimaske herunterreißen würde, um seinen bösen Scherz zu bekunden, doch Spade würde noch konnte sich das Gesicht herunterreißen, weil es nämlich nicht aus Gummi war, sondern aus Haut. Es war so eindeutig echt und so eindeutig schrecklich. Es wäre kein Problem, wenn man die Falschheit dieser Züge sofort als Maske identifizieren könnte, doch bei einem genauen Blick waren Poren zu sehen und gerade im Verschwinden begriffene Blutergüsse. Dieser Irre hatte sein hübsches Gesicht zu einer Fratze verzerren lassen.
„Sag mir, was ich mit einem Kellner wie dir anstellen soll, hm?!“, schrie er.
„Ruhig, ganz ruhig. Ich bin hergekommen, um zu arbeiten, obwohl mir sicher jeder Arzt geraten hätte, noch zu Hause zu bleiben, bis mein Gesicht geheilt ist.“
„Du hast einen ganzen Tag gefehlt!“, schrie Herr Schmitt. „Einen ganzen Tag, ohne Krankmeldung oder Entschuldigung. Kannst du dir vorstellen, was gestern los war? Uns hat einfach ein Kellner gefehlt und nicht irgendeiner, sondern du, Ben!“
„Ich heiße Spade“, beteuerte er.
Herr Schmitt drehte den ausgebrannten Filter zwischen den Fingern. Fast hätte er ihn einfach weggeschnippt und gerade wurde ihm bewusst, dass er auf das saubere Pflaster geascht hatte, was seinen Zorn nicht gerade dämpfte.
„Du warst schon immer irre. Wie konnte ich einen Verrückten wie dich überhaupt anstellen, Ben, verrate mir das mal?“
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