„Blutergüsse nach einer Gesichtsoperation sind ganz natürlich. In Ihrem Falle um Nase und Augen und an den Gesichtsrändern.“
Dieser dünne Mann, eher wie ein verworfener Lehrer, saß auf dem schmalen Stuhl an einem kleinen runden Tisch, der an einer Wand stand.
„Sie können den Verband morgen abnehmen, aber lassen Sie Ihrem Gesicht Zeit zum Regenerieren. Sie sollten drei bis vier Wochen die Sonne meiden, um sich dann langsam wieder daran zu gewöhnen.“
Es kostete Spade einfach zu viel Kraft, den Kopf weiter aufrecht zu halten, also ließ er ihn wieder zurück auf das altertümliche Sofa fallen, auf dem er lag. Es musste wohl limonengrün sein.
„Kein Problem … Die Sonne und ich, wir verstehen uns nicht“, meinte Spade und stellte fest, dass er gerade nicht lächeln konnte. Wahrscheinlich, weil er es schon tat. Er versuchte es kurz in seinem schmerzenden Schädel, in dem er das Gehirn erst spät und träge reagieren spürte wie in gelatineartiger, trüber Brühe. „Muss ich wieder herkommen, um den Verband abzunehmen?“
„Nein“, meinte David ausdruckslos. Er trank einen Schluck Wein. „Sie könne das gern zu Hause tun. Aber denken Sie daran, einen leichteren Verband darumzulegen. Auch wenn Ihr Gesicht nicht Gefahr läuft, schief zu werden.“
Spade kicherte, so gut er konnte. Doch in seinem Zustand war es nur ein schwaches Gurgeln.
„Kann ich gehen?“
„Sobald Sie stehen können, können Sie gehen“, meint David.
„Gibt’s sonst noch was, das ich wissen müsste?“, fragte Spade, die Latten an der Decke anstarrend.
„Nein. Sie haben gezahlt und bereits unterschrieben, dass ich Ihr Gesicht nach Ihrem Wunsch verunstaltet habe.“ David stand auf und ging hinüber zu Spade, der ihn mit seinen verschieden geweiteten Pupillen ansah.
Spade gurgelte. „Ich verklage Sie, wenn mein Gesicht nicht verunstaltet ist“, scherzte er.
„Empfehlen Sie mich weiter“, meinte David. Er verschwand aus Spades Sichtfeld und kam mit einer Jacke, gerade im Begriff, sie anzuziehen, wieder.
„Wo wollen Sie hin?“, fragte Spade.
„Ich muss noch Miete zahlen. Fassen Sie nichts an und warten Sie, bis Sie ohne zu schwanken stehen können. Es ist nicht ungewöhnlich, aber wenn Ihnen schlecht wird, steht ein Eimer neben dem Sofa“, sagte David und deutete neben Spades Kopf.
„Miete? So spät?“, fragte Spade.
„Es ist nicht spät sondern früh. Schlimmstenfalls zu spät. Wir haben acht Uhr.“
„Geben Sie mir den Wein!“, keuchte Spade, der versuchte, sich aufzurichten.
„Nein“, meinte David und öffnete die Tür. „Und wenn ich ihn mir nehme?“
David sah neben der Tür stehend zu Spade, der sich an der Sofalehne halb hinaufgezogen hatte. „Nicht, wenn Sie leben wollen“, meinte er und schlüpfte durch die Tür nach draußen.
Spade ließ sich an der Lehne hinabsinken. Erschöpft, aber glücklich. Und er hätte gern richtig gelacht, doch es ging nicht. „Was ist mit Kopfschmerztabletten?“
„Tot!“, rief David. „Ertragen Sie’s wie ein Mann“, drang seine Stimme von draußen.
„Ich weiß nicht mal, ob ich wirklich wach bin oder ob es ein Traum ist“, keuchte Spade und schloss die schmerzenden Augen.
„Dann bleiben Sie liegen, bis Sie’s sind.“ Er ließ Spade oben zurück und stieg die alte, knarzende Treppe, deren Stufen mit Linoleum belegt waren, hinunter, die dünnen Hände mit den langen Fingern glitten über das alte, dick mit Farbe bestrichene Holzgeländer. Unten befanden sich der schmale Gang zur Hintertür und die andere Tür zum Laden der Wos. Als David die Tür öffnete, stand er in einem kleinen quadratischen Laden mit zwei zusammengeschobenen Regalen als Kreisverkehr in der Mitte. Dort gab es alles, von Porzellankatzen über Püppchen bis hin zu billiger, künstlich stinkender Kleidung, von der David einen Anzug trug. Herr Wo, der kleine Chinese, baute draußen gerade den Gemüsestand auf, während seine Frau und Tochter, beide mit glattem schwarzem Haar, an der Kasse standen. Die Tochter war ein schlankes Mädchen mit einem hübschen runden Gesicht und soweit David wusste, wurde an ihr kaum etwas verändert oder gar vorausgeplant. Bloß Standard, keine Krankheiten. Augenfarbe unbeeinflusst, ebenso wie das Gesicht. Die Wo’s waren eben altmodisch. Die Tochter sah David auf sich zukommen und machte auf Chinesisch eine Bemerkung zu ihrer Mutter, die aufsah und über das ganze Gesicht strahlte. „Doktor Steinmann, guten Morgen.“
David zog das Geld aus der Hosentasche und streckte Frau Wo die in der Mitte gefalteten Scheine entgegen. „Die Miete.“
„Vielen Dank“, meinte Frau Wo, nahm es entgegen und schob es sogleich in die dreckige weiße Plastikkasse. „Können Sie Li zur Schule fahren?“
„Ja. Aber ich habe noch einen Patienten oben“, merkte er an. Li hob ihre Tasche auf und warf sie über die Schulter.
„Ich werde nach ihm sehen, Doktor Steinmann“, sagte sie und fuhr fort, zu erledigen, was auch immer sie gerade tat.
David ging voran und hinaus zu seinem silbernen, unauffälligen Wagen, der auf dem von Unkraut bewachsenen Hof auf sie wartete. Es hatte etwas Ritualartiges an sich. Er schnappte den Wagen auf. Ein Blinken, ein Klacken. Während er die Fahrerseite öffnete, ging Li um das Auto herum und ließ sich auf dem Beifahrersitz nieder mit ihrer Tasche auf den Knien.
Er wusste viel und doch wenig über Li. Ihm war bekannt, dass sie Medizin studierte; dass sie eigentlich ein Kind dieses Landes war, welches nicht viel von der Vergangenheit seines ursprünglichen kannte, außer der Sprache natürlich. Und eigentlich interessierte es ihn, was sie wohl dachte, doch sie kamen nur sehr selten ins Gespräch. Allerdings nur, wenn Li es wollte. Sie fing an. Er niemals. Meistens sprachen sie über Medizin. Ab und an erklärte er ihr etwas, was sie nicht verstanden hatte, wobei ihn stets dieses Gefühl verfolgte, dass sie eh wusste, was er sagte. Ab und zu unterhielten sie sich auch einfach so.
Es war eine merkwürdige Verbindung von David zu der Familie Wo. Er wohnte über ihrem Laden und sie über ihm. Wenn sie im Hof, der von allen vier Seiten von Häusern eingeschachtelt war, grillten, grillte er mit ihnen. Unterhielt sich mit ihnen. Sie duldeten seine halbwegs legale Praxis, deren Legalität sich nur so weit erstreckte, indem es kein Gesetz gegen das gab, was er tat: Gesichter für Geld zu verunstalten.
Als er vor dem kantigen Gebäude der Uni hielt, dachte er den Gedanken zu Ende, der sich darum drehte, dass der Laden der Wos nicht viel abwarf. Li verabschiedete sich nach dieser schweigsamen Autofahrt und wollte aussteigen, als David sie mit einem ruhigen „Warte kurz“ abhielt, bevor er ihr einen Schein reichte. Ihre mandelförmigen Augen sahen auf das Geld hinunter. „Weil Studenten immer welches brauchen“, meinte David und lächelte leicht. Li nahm es, lächelte ebenfalls, umarmte ihn flüchtig, bedankte sich eilend und ging.
Manchmal kam es ihm fast so vor, als wäre Li seine Tochter. Manchmal gefiel ihm der Gedanke jedoch nicht und die Realität zeigte ihm auf anschauliche Weise, dass sie’s nicht war.
David fuhr zurück.
Selbst der Weg zu Pias Wohnung war Spade so vorgekommen, als wandere er im Traum herum. Alles war irgendwie fremd und verschwommen, was wohl an dem Nachhallen des Betäubungsmittels in seinem Kopf lag. Er erinnerte sich noch schwach daran, sich aufgesetzt zu haben, und als er sich gerade in den Eimer erbrach, war ein älterer Chinese ins Zimmer getreten und hatte irgendwas gesagt. Spade war sitzen geblieben und hatte seine schwarzen, glänzenden Schuhe betrachtet, bis sein Kopf klar genug geworden war, um aufzustehen und durch die morgendliche Stadt zu wandern, die inzwischen erwacht war. Er ging an den grauen Häusern und den Schaufensterpuppen vorbei zu den Plattenbauten, die eher wie alte Computer wirkten und hoch in die Luft ragten. Der, in dem Pia wohnte, zeichnete sich durch viele kleine Balkone aus, die unabhängig voneinander aus der Fassade standen, gleich herausgezogenen Schubkästen.
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