Das war der Augenblick, in dem sie zu rauchen und zu trinken begann. Nicht besonders viel, aber immer öfter.
Kurz darauf folgte die Einladung von Peter, zu ihm ins halb leer stehende Eisenbahnerhäuschen zu ziehen. Und sie beging den zweiten großen Fehler ihres Lebens.
Gertrud ließ sich dazu herab, den ganzen Haushalt und Peters Betreuung zu übernehmen. Für ein bis zwei, allerhöchstens für drei Jahre, stellte sie sich damals wahrscheinlich vor. Und bestimmt nicht unentgeltlich. Ein bisschen mehr als nur Taschengeld müsste schon drin sein. Aber mittlerweile ist aus dem einst rüstigen Frührentner ein alter gebrechlicher Mann geworden, der vorzeitig an Demenz erkrankt ist und dennoch überhaupt nicht ans Abtreten denkt. Und sie begann sich mit ihrem Dasein als Haushälterin und Hobbypflegerin abzufinden. Ja, sie fühlt sich wohl in ihrer Rolle. Sie wird gebraucht. Sie blüht regelrecht auf, in ihrer für sie eigenen Art. Nun ist sie es, die allen, erfüllt mit Stolz, ihren Alltag schildert. Sie erzählt jedem von ihren körperlichen Strapazen und dem bürokratischen Aufwand, die ihr neuer Job so mit sich bringt.
Gelegentlich half Peter beim Unterhalt des kleinen Gartens, der das Haus umgibt, noch mit. In früheren Jahren pflegte er zusammen mit Hannelore einen recht ansehnlichen Gemüse- und Blumengarten, der zu seinen besten Zeiten in der ganzen Nachbarschaft für helle Begeisterung sorgte. Peter erledigte die Grobarbeiten, wie den Boden umgraben, Kartoffeln anbauen, Sträucher schneiden und vieles mehr. Hannelore und die damals noch kindliche Gertrud hingegen waren für die Blumenrabatten und weitere Feinarbeiten zuständig. Das Jahr begann jeweils mit Blaukissen, Steinkraut und vielerlei Zwiebelgewächsen. Dann blühten gelbe Rudbeckien und lila Phlox um die Wette und schließlich endete das Gartenjahr mit dem Abblühen der blauen Herbstastern und der gelb-rot-bunten Herbstbelaubung eines stattlichen japanischen Fächerahorns.
Nach Hannelores Tod und nachdem sich auch Peter vom Gärtnern verabschiedet hatte, übernahm Mum ihre Parts ebenfalls. Aber es war innert Kürze absehbar, dass ihr die Belastung allmählich über den Kopf wuchs. So klafften in den Blumenrabatten immer größere hässliche Lücken und in den Gemüsebeeten begann das Unkraut zu sprießen.
Und ich? Ich hielt mich stets aus diesem Zirkus heraus, denn für mich war das Ganze eine einzige inszenierte Show, die nur dazu diente, unseren Nachbarn, unseren Gästen und den Passanten vorzutäuschen, dass in unserem schnuckeligen Häuschen mit der biederen Fassade nur bodenständige, konservative und selbstverständlich glückliche Menschen leben. Was für ein gigantischer Selbstbetrug. Eine Verlogenheit, die an Groteskem kaum zu übertreffen war. Für mich bestand das einzige Glück darin, dass alle beide darauf verzichteten, Gartenzwerge und sonstigen Zierramsch aufzustellen.
Schließlich war es meine Mum, die den Garten gänzlich verwildern ließ und dafür in einem dieser Fitnessstudios für gelangweilte Hausfrauen ein Jahresabo löste. Als sich die Nachbarn wegen der Wildnis und des sich aussamenden Unkrauts beschwerten, suchte sie per Zeitungsinserat einen möglichst billigen, in Rente stehenden Gärtner für den Gartenunterhalt. Es meldete sich ein junger Arbeitsloser, der willig genug war, mit der Wildnis aufzuräumen, jedoch etwas mehr verlangte als die Rentner. Mum ließ sich durch nichts beirren, drückte den verlangten Tarif auf Rentnerniveau und versprach dem verdutzten Mann, den Rest in Naturalien auszuzahlen, wobei sie ihre Bluse aufknöpfte und ihm ihre Reizwäsche zeigte. Das genügte für einen mündlichen Vertragsabschluss. Jeweils nach verrichteter Gartenarbeit bietet sie dem Gärtner unsere Dusche an, worauf sie gleich mit ihm hinter dem Vorhang verschwindet. Zugegeben: Irgendwie war es schon ätzend, als ich zum ersten Mal meine Mum – diesmal auf dem Küchentisch – beim Herumpoppen mit einem jungen Kerl ertappte, der kaum mehr Bartstoppeln als ich vorzuweisen hatte. Na ja, mir blieb sowieso nichts anderes übrig, als mich daran zu gewöhnen.
Manchmal fahren beide anschließend in seinem klapprigen VW-Pickup davon. Zu Hause sagt sie dann, sie gehe noch schnell was einkaufen. Tatsächlich dauern ihre Einkäufe nicht selten bis zwei Uhr morgens oder es wird noch später. Manchmal kommt sie auch erst im Laufe des Vormittags nach Hause. Dann wird Opa richtig grantig, weil niemand da ist, der ihm die Frühstückseier kocht und Kaffee macht. In solchen Momenten dreht er völlig durch, beschimpft Mum als geile Nutte, die sich gefälligst um den Haushalt zu kümmern habe, und nennt mich fauler Hurensohn , obwohl er eigentlich wissen müsste, dass ich mich längst auf dem Bau abrackere, wenn er sich endlich dazu bequemt, seinen eigenen Arsch von der Matratze zu hieven. Mal ganz davon abgesehen, dass ich mit einem guten Teil meines Stiftenlohns herhalten muss, das Haushaltsbudget zu optimieren.
Das sind diese Situationen, in denen ich mich beherrschen muss, Opa keine zu schmieren. Manchmal versuche ich, mit Mum darüber zu sprechen. Ich habe ihr schon öfters vorgeschlagen, dass es besser wäre, ihn für ein Altersheim anzumelden. Sie jedoch wimmelt jedes Mal ab. Entweder weil sie davon nichts wissen will oder weil es ihrer Ansicht nach noch zu früh ist. Dieses Verhalten wiederum macht mich wütend. Nicht wegen Opa – der ist im Grunde ein kranker und darum bedauernswerter Kerl –, nein, meine Mum, mit ihrem uneinsichtigen Verhalten, treibt mich zur Weißglut. Dann würde ich am liebsten abhauen. Aber irgendetwas hält mich zurück und ich weiß beim besten Willen nicht, ob es wirklich nur Vernunft ist. Stattdessen verlasse ich fluchtartig unser Haus, gehe zu Charly, meinem besten Kumpel, zum Krafttraining oder wir gehen, wenn sein Dienstplan es zulässt, in Miller’s Hafenkneipe etwas trinken.
Eigentlich war Peter ein frommer, gottesfürchtiger Mann, der sonntags regelmäßig die Gottesdienste in der Quartierkirche besuchte und großen Wert darauf legte, dass seine Familie ihn ohne Widerspruch dahin begleitet. Früher, als ich klein war, spielte ich dieses Spiel widerspruchslos mit. Dann kam die Sache mit dem Religionsunterricht und der Vorbereitung zur Konfirmation.
Es war einer dieser legendären Abende im Pfarrhaus. Unsere Klasse bestand damals aus etwa fünfzehn Jungen und Mädchen. Pfarrer Lautenschlager laberte uns eine satte Stunde lang mit so einer fünftausendjährigen Geschichte aus dem alten Testament die Gesichter zu. Irgendwas, das nun wirklich niemanden in der heutigen Zeit interessiert.
Nach einem langen und strengen Schultag kämpften wir Jungs mehr oder weniger erfolglos gegen den Schlaf. Ich hielt meine Augen einigermaßen wach, indem ich die Mädchen beobachtete, ihre Rundungen, ihre Oberweiten; und ich versuchte mir vorzustellen, wie ihre Brüste wohl aussahen, wenn sie keine Blusen oder Pullover getragen hätten. Von einem dieser Mädchen war ich ganz besonders angetan. Sie hieß Conny Ritter und war unglaublich schön. Hellbraune, schulterlange Haare, schlanke Beine, ein Teint, der stets Ferienbräune zeigte, und zwei pralle Dinger, die zum Zupacken animierten. Mit der Zeit starrte ich nur noch sie an und ich glaube, ich hätte mich beinahe in sie verliebt, wenn sie sich nicht so zickig benommen hätte. Eines Abends kam sie auf mich zu und sagte mir direkt und ohne Umschweife, ich solle gefälligst die Glotzerei unterlassen. Ich sähe zwar auch ganz nett aus, aber sie bevorzuge Jungs aus den oberen Gesellschaftskreisen. Später angelte sie sich dann tatsächlich einen dieser smarten Pinkel, den sie beim Reiten kennengelernt hatte. Einen gewissen Gustav Oderbolz, ein pikfeiner, aber schon in Jugendjahren recht arroganter Typ aus einer steinreichen Industriellenfamilie, der die strohblonden Haare stets gescheitelt und angegelt hatte, eine dieser unmöglichen Hornbrillen mit zentimeterdicken Gläsern trug und bei jeder Gelegenheit nach Balma Kleie roch, sogar dann, wenn er mit seiner Entourage unterwegs in den Ausgang war. Tja, so ist das Leben. Eigentlich liebe ich solche Frauen wie Conny, denn man weiß immer sofort, woran man ist und wie die Chancen stehen. Obwohl, wenn ich mir das so recht überlege, finde ich, dann hätte sie mir doch ruhig auch mal einen blasen dürfen. Ich meine, von wegen nett aussehen oder so.
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