auszulöschen . Ich meine, nicht einfach einen Mund zum Schweigen, ein Herz zum Stillstand zu bringen, etwas Lebendiges zu töten – nein, ich meine, alles zu
vernichten , was irgendwie an die Existenz eines Menschen, an ein Dasein auf Erden erinnert. Ein kalter Schauer läuft über meinen Rücken. Es muss trostlos sein, wenn man so gehen muss. Wenn man nicht die geringste Spur hinterlässt. Und doch, ist es nicht die Mehrheit aller Menschen, die dieses Schicksal miteinander teilt? Stirbt nicht gerade in diesem Moment irgendwo ein Obdachloser, der nichts anderes hinterlässt als eine versiffte Wolldecke und eine leere Schnapsflasche? Was bleibt mehr übrig, wenn ein Kind einen sinnlosen Hungertod stirbt, als bedrückende Erinnerungen an ein Schicksal, das niemals Glück erfahren durfte? Gibt es denn einen
sinnvollen Tod? Oder sollte ich vielleicht die Frage anders stellen: Gibt es auch
sinnloses Leben? Worin liegt der Sinn, wenn letztendlich alles Lebendige wieder zu Staub zerfällt? Existiert in uns wirklich etwas, das für die Ewigkeit bestimmt ist, etwas, das wir
Seele nennen? Wenn ja, kann diese Seele wachsen und sich weiterentwickeln, indem sie einen sterbenden Körper verlässt und sich in einem neugeborenen einnistet? Wenn ja, wozu dieser Aufwand? Kann es sein, dass eine Seele Macht auf ihren Träger ausübt und ihn so beeinflusst, dass daraus ein sogenannter Gutmensch oder eben ein Kotzbrocken wird? Ich denke – und ein Blick in die TV-Nachrichten genügt mir als Bestätigung –, wenn es wirklich so wäre, dann hat die Menschheit einen gigantischen Nachholbedarf. Nach wie vor fällt es mir schwer, an einen Siegeszug des Guten über das Böse zu glauben. Auch glaube ich weder an Götter noch an Reinkarnation, Seelenwanderungen und dergleichen. Das sind doch alles utopische Fantasien, Wunschvorstellungen von einem immerwährenden Paradies, von Philosophen und anderen weltfremden und lebensuntauglichen Spinnern erdacht, ihr eigenes Weltbild einer breiteren Masse zugänglich zu machen. Gerade in Glaubensfragen klaffen zwischen Wunsch und Wirklichkeit riesige Lücken. Ich finde sowieso, dass die Leute weniger beten, dafür mehr Eigenverantwortung übernehmen sollten. Aber Menschen sind eben Menschen, weil sie neugierig sind und Fragen stellen. Auch solche, die man nie gänzlich beantworten können wird. Zum Beispiel Fragen zu unserer Herkunft oder zu unserem Schicksal in ferner Zukunft. Im Extremfall gründen sie Religionen, erklären alles Unerklärbare mit Gott und schon sind sie zufriedengestellt. Dann haben sie jemanden, dem sie danken können, wenn es ihnen gut geht, oder es ist einer da, den sie für alles Negative zur Verantwortung ziehen können. Wie dem auch sei, für mich macht es keinen Unterschied. Der finale Showdown fällt für alle gleich aus. Mit nur einer kleinen Nuance: Die Asche des krepierten Obdachlosen wird dem anonymen Gemeinschaftsgrab beigegeben, der Soldat, der in einem schwarzen Plastiksack aus Afghanistan zurückkehrt, bekommt ein Einzelgrab mit Stein und Inschrift.
Gewiss, Opferbereitschaft und Heldentum ebnen den Weg für einen Eintrag in die Geschichtsbücher. Was aber geschieht mit der großen Masse derer, die zeitlebens nie eine Auszeichnung, eine Medaille erhalten haben? Zum Beispiel jene Menschen also, die mehr oder weniger zufällig da sind, weil zwei sich gepaart und dabei, unter Ausschluss der üblichen Ambitionen für Karriere und Familienplanung, ein Kind gezeugt haben. Zugegeben, auch ich gehöre der Sparte Zufallsprodukte an. Kollateralschaden im Blitzkrieg zweier Zufallsbekanntschaften. Mit sieben Jahren habe ich meine Mutter gefragt, warum sie nie Geschwister für mich haben wollte. Sie antwortete: „Weil ich nicht mehr konnte.“ Ich ahnte schon damals, dass sie gelogen hat. Denn sie hätte sehr wohl noch gekonnt. Aber sie wollte nicht mehr. Die Last einer weiteren Mutterschaft wollte sie sich nicht noch einmal aufbürden. Niemals wieder die Strapazen einer Geburt, und schon gar nicht, wenn diesem Ereignis ein Akt vorausginge, der, ohne die eigene Fantasie übermäßig beanspruchen zu müssen, irgendwo zwischen Pflichterfüllung und Vergewaltigung einzuordnen wäre. Aber auch nie mehr die Erfahrung dieses geheimnisvollen Glücksgefühls, das mit jedem vollbrachten Schöpfungsakt einhergeht.
Ich versuche mir einzureden, dass alles Werden und Vergehen seine Richtigkeit hat. Dass alles irgendwie vorbestimmt ist und sich alles letztlich zum Guten wenden wird. Dann wieder überlege ich mir, ob ich gelegentlich meinen so sehr gehassten Erzeuger aufsuchen und ihm eine Bleispritze ins Hirn verpassen soll. Für all das, was er meiner Mutter und letztlich auch mir angetan hat in der kurzen Zeitspanne, in der sie zusammen waren, jenem Lebensabschnitt also, dem ein lauer Windhauch dessen voranging, das sie einst Liebe nannten, und in dem er ihre Hoffnungen auf ein bisschen Glück im Leben wie Kakerlaken auf der Straße zertreten hat.
Im Geäst einer riesigen Steineiche zankt sich eine Schar Krähen um Beute. Vielleicht hat einer der Vögel eine Maus erwischt, die sich zu leichtsinnig aus ihrem Erdloch hervorgewagt hat. Intuitiv beschleunige ich meinen Schritt und strebe dem Ausgang zu …
Draußen regnet es in Strömen – schon seit Tagen. Es ist Mitte Dezember. Ein kalter Wind fegt durch die verwaisten Straßen. Durch das Fenster sehe ich die kahlen Baumkronen sich in den Böen wiegen. Nasses dunkelbraunes Laub klebt auf den Gehsteigen. Die wenigen Menschen, die über die Straße eilen, ziehen die Kragen hoch und die Kapuzen noch weiter ins Gesicht. Sie schimpfen lauthals über dieses miserable Sauwetter. Warum auch nicht. Dazu ist das Wetter schließlich da. Sie tun es auch dann, wenn sie sich gar nicht kennen. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Schicksalsschläge formen aus Gegnern Verbündete. Keinerlei Floskeln suggerieren derart Mitgefühl, Anteilnahme, ja, in gewisser Weise sogar Geborgenheit und Wärme wie das gemeinsame Beschimpfen einer misslichen Situation.
Der Wind pfeift um die Ohren und bläst den Regen direkt ins Gesicht. Es ist kalt. Aber immer noch zu wenig kalt, um den Niederschlag in Schnee zu verwandeln. Das wäre schön: Ein makelloses Weiß, das den Schmutz, den grauen und den braunen Dreck, die Trostlosigkeit und die Tristesse des Alltags einfach zugedeckt hätte. Wenigstens für eine kurze Zeit wäre der ganze unansehnliche Müll, der Morast verschluckt worden. Verschwunden. Aus den Augen, aus dem Sinn. Einfach endloses Weiß, das unter einem stahlblauen Himmel glitzert, lediglich durchbrochen von den in bunten Winterklamotten spielenden und vor praller Lebensfreude jauchzenden Kindern.
Nun hat sich das Leben zurückgezogen. Ist in Deckung gegangen. In die Behausungen, in die Höhlen, in die Nischen. Früher scharten sich die Menschen bei Kälte um ein Feuer, versammelten sich in einem beheizten Raum. Vielleicht in der Küche, vielleicht in der Stube. Eigentlich recht gemütlich, wenn ich mir das so vorstelle.
Heute versammeln sie sich in den riesigen Einkaufszentren. In den Läden und Restaurants rund um die Mall wuselt es nur so von Leben. Besonders in der Vorweihnachtszeit. Da trifft man sie alle wieder, in Eintracht, beim Befriedigen ihrer Süchte. Und alle geben sich die größte Mühe, sich im Stress nichts anmerken zu lassen. Ihre eigene Unzufriedenheit, ihre eigentliche Abscheu, ja, ihre angestaute Frustration über ihr Versagen, dem wirtschaftlichen Diktat wieder nichts entgegengesetzt zu haben. Alle mimen gute Laune, grinsen sich affig an und geben heuchlerische Phrasen von sich, obwohl jeder seinem Gegenüber am liebsten die Faust in die blöde Fresse schlagen möchte. Und jeder denkt, es im nächsten Jahr ganz sicher besser zu machen. Aber was heißt das schon. Was soll denn noch besser werden? Noch mehr Umsatz, noch mehr Gewinn, noch mehr Konsumrausch?
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