Niemand hat je bewiesen, dass eine Ein-Volt-Batterie ein menschliches Herz wieder zum Schlagen bringen kann, aber Dutzende von Beobachtern vor Humboldt berichteten, dass Elektrizität die menschliche Pulsfrequenz erhöht. Dieses Wissen besitzen die heutigen Ärzte nicht mehr. Die deutschen Ärzte Christian Gottlieb Kratzenstein 6und Carl Abraham Gerhard, 7der deutsche Physiker Celestin Steiglehner, 8der Schweizer Physiker Jean Jallabert, 9die französischen Ärzte François Boissier de Sauvages de la Croix, 10Pierre Mauduyt de la Varenne 11und Jean-Baptiste Bonnefoy, 12der französische Physiker Joseph Sigaud de la Fond 13und die italienischen Ärzte Eusebio Sguario 14und Giovan Giuseppi Veratti 15waren nur einige der Beobachter, die berichteten, dass ein elektrisches Bad die Pulsfrequenz bei Verwendung von positiver Elektrizität um fünf bis 30 Schläge pro Minute erhöhte. Negative Elektrizität hatte den gegenteiligen Effekt. 1785 führte der niederländische Apotheker Willem van Barneveld 169 Studien mit 43 seiner Patienten durch. Die Probanden waren Männer, Frauen und Kinder im Alter von neun bis 60 Jahren. Bei einem Bad mit positiver Elektrizität konnte man durchschnittlich eine Erhöhung der Pulsfrequenz um fünf Prozent feststellen. Wurde die Person stattdessen in negativer Elektrizität gebadet, ergab sich eine Senkung der Pulsfrequenz um drei Prozent. 16Wenn positive Funken erzeugt wurden, erhöhte sich der Puls um 20 Prozent.
Dies waren jedoch nur Durchschnittswerte: Keine zwei Personen reagierten in der gleichen Weise auf Elektrizität. Während der Puls einer Person stets von 60 auf 90 Schläge pro Minute anstieg, verdoppelte er sich bei einer anderen immer; bei manchen schlug er viel langsamer und wieder andere reagierten überhaupt nicht. Bei einigen von van Barnevelds Versuchspersonen war die Reaktion sogar genau das Gegenteil von der der Mehrheit: Eine negative Ladung beschleunigte immer ihren Puls, während eine positive Ladung ihn verlangsamte.
Solche Beobachtungen tauchten jetzt in schneller Abfolge und in großer Zahl auf. Dadurch wurde bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ein grundlegendes Wissen über die Auswirkungen des elektrischen Fluidums – normalerweise der positiven Sorte – auf den menschlichen Körper aufgebaut. Wie wir gesehen haben, erhöhte sie sowohl die Pulsfrequenz als auch die Stärke des Pulses. Sie vermehrte alle Sekretionen des Körpers. Elektrizität verursachte Speichelfluss, ließ Tränen fließen und Schweiß rinnen. Sie verursachte die Sekretion von Ohrenschmalz und Nasenschleim. Sie ließ die Magensäfte fließen und stimulierte den Appetit. Sie konnte den Milchflussreflex sowie die Menstruationsblutung auslösen. Sie verursachte ein verstärktes Urinieren bei Menschen und regte die Darmentleerung an.
Für die Elektrotherapie waren die meisten dieser Vorgänge nützlich und würden dies auch bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts bleiben. Andere Wirkungen waren jedoch völlig unerwünscht. Die Elektrifizierung verursachte fast immer ein Schwindelgefühl und manchmal eine Art geistige Verwirrung oder „istupidimento“, wie die Italiener es nannten. 17Sie erzeugte häufig Kopfschmerzen, Übelkeit, Schwäche, Müdigkeit und Herzklopfen. Manchmal verursachte sie Kurzatmigkeit, Husten oder asthmaähnliches Keuchen. Sie löste auch öfters Muskel- und Gelenkschmerzen und mitunter psychische Depressionen aus. Obwohl Elektrizität normalerweise dazu führte, dass sich der Darm – oft mit Durchfall verbunden – entleerte, konnte eine wiederholte Elektrifizierung zu Verstopfung führen.
Elektrizität verursachte sowohl Schläfrigkeit als auch Schlaflosigkeit.
Humboldt stellte in Experimenten an sich selbst fest, dass Elektrizität den Blutfluss aus Wunden erhöhte und verstärkt zur Entleerung von Blasenflüssigkeit führte. 18Gerhard teilte ein Pfund frisch entnommenes Blut in zwei gleiche Teile, stellte diese nebeneinander und elektrifizierte einen davon. Die Gerinnung des elektrifizierten Bluts dauerte länger. 19Antoine Thillaye-Platel, Apotheker im Hôtel-Dieu, dem berühmten Krankenhaus in Paris, bestätigte, dass Elektrizität bei Blutungen kontraindiziert sei. 20Zahlreiche Berichte über Nasenbluten durch Elektrifizierung decken sich mit diesen Beobachtungen. Winkler und seine Frau bekamen, wie bereits erwähnt, Nasenbluten durch den Stromschlag einer Leidener Flasche. Der schottische Arzt und Anatom Alexander Monro ist für die Entdeckung der Funktion des Lymphsystems bekannt. In den 1790er-Jahren bekam er Nasenbluten durch eine einzige Ein-Volt-Batterie, wann immer er versuchte, ein Empfinden von Licht in seinen Augen hervorzurufen. „Dr. Monro war vom Galvanismus so angeregt, dass er aus der Nase blutete, als er das Zinkstück sehr sanft in seine Nasenhöhlen einführte und es mit einem auf seine Zunge aufgebrachten Anker in Kontakt brachte. Die Blutung fand immer in dem Moment statt, in dem die Lichter auftauchten.“ So berichtete Humboldt. 21In den frühen 1800er-Jahren beobachtete Conrad Quensel in Stockholm, dass Galvanismus „häufig“ Nasenbluten verursachte. 22
Liniengravur von Abbé Nollet, Recherches sur les Causes Particulières des Phénomènes Électriques , Paris: Frères Guérin, 1753
Abbé Nollet bewies, dass mindestens einer dieser Effekte – Schweiß – schon allein dadurch verursacht wurde, dass man sich in einem elektrischen Feld befand. Der tatsächliche Kontakt mit der Reibungsmaschine war nicht einmal notwendig. Er hatte Katzen, Tauben, verschiedene Arten von Singvögeln und schließlich auch Menschen elektrifiziert. Er führte sorgfältig kontrollierte, wiederholbare Experimente mit modern anmutenden Datentabellen durch. So konnte er bei all seinen elektrifizierten Probanden einen messbaren Gewichtsverlust aufgrund einer erhöhten Verdunstung über ihre Haut belegen. Er elektrifizierte sogar 400 Stubenfliegen vier Stunden lang in einem mit Gaze bedeckten Gefäß. Er stellte fest, dass auch sie Gewicht verloren hatten – 4 Korn (ca. 0,25 Gramm) mehr als ihre nicht elektrifizierten Gegenstücke in der gleichen Zeit.
Dann hatte Nollet die Idee, seine Probanden auf den Boden unter dem elektrifizierten Metallkäfig zu stellen, anstatt dort hinein. Sie verloren genauso so viel und sogar ein wenig mehr Gewicht als bei dem Versuch, in dem sie selbst elektrifiziert wurden. Nollet hatte auch eine Beschleunigung des Wachstums von Sämlingen beobachtet, die in elektrifizierten Töpfen keimten; dies geschah auch, wenn die Töpfe nur auf den Boden darunter gestellt wurden. „Schließlich“, schrieb Nollet, „ließ ich eine Person fünf Stunden lang auf einem Tisch in der Nähe des elektrifizierten Metallkäfigs sitzen.“ Die junge Frau dieses Versuches verlor 15 Gramm mehr Gewicht als in dem Versuch, in dem sie selbst elektrisiert worden war. 23
Nollet war somit die erste Person, die 1753 über signifikante biologische Effekte der Exposition gegenüber einem elektrischen Gleichstromfeld berichtete – ein Feld, das laut der heutigen gängigen Wissenschaft keinerlei Auswirkungen hat. Sein Experiment wurde später von Steiglehner, Professor für Physik an der Universität Ingolstadt in Bayern, mit einem Vogel mit ähnlichen Ergebnissen wiederholt. 24
In Tabelle 1sind die Auswirkungen einer elektrischen Ladung oder kleiner Gleichstromströme auf den Menschen aufgeführt, die von den meisten frühen Elektropraktikern gemeldet wurden. Elektrisch sensible Menschen werden heute die meisten, wenn nicht alle, erkennen.
Tabelle 1Auswirkungen der Elektrizität nach Berichten aus dem 18. Jahrhundert
Therapeutische und neutrale Auswirkungen |
Nichttherapeutische Auswirkungen |
Änderung der Pulsfrequenz |
Schwindelgefühl |
Geschmacks-, Licht- und Geräuschempfindungen |
Übelkeit Kopfschmerzen |
Erhöhte Körpertemperatur |
Nervosität |
Schmerzlinderung |
Reizbarkeit |
Wiederherstellung des Muskeltonus |
Geistige Verwirrung |
Appetitanregung |
Depression |
Geistiges Hochgefühl |
Schlaflosigkeit |
Sedierung |
Schläfrigkeit |
Schwitzen |
Ermüdung |
Speichelfluss |
Schwäche |
Sekretion von Ohrenschmalz |
Gefühlstaubheit und Kribbeln |
Schleimsekretion |
Muskel- und Gelenkschmerzen |
Menstruation, Uteruskontraktion |
Muskelspasmen und -krämpfe, Rückenschmerzen |
Laktation |
Herzklopfen |
Tränensekretion |
Brustschmerzen |
Urinieren |
Kolik |
Defäkation |
Durchfall |
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Verstopfung |
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Nasenbluten, Blutung |
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Juckreiz |
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Zittern |
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Anfälle |
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Lähmung |
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Fieber |
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Infektionen der Atemwege |
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Atemnot |
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Husten |
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Keuchen und Asthmaanfälle |
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Augenschmerzen, Schwäche und Müdigkeit |
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Ohrgeräusche |
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Metallischer Geschmack |
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