Elisabeth wusste allerdings, was er fragen wollte. „Ich weiß nicht, ob man ihn als Antisemit bezeichnen kann. Ich fürchte, weit entfernt davon ist er nicht.“
Eine Weile war es still. Jeder hing seinen Gedanken nach.
Dann meinte ich, etwas Tröstliches sagen zu müssen. „Du musst dir deswegen keine Vorwürfe machen, Elisabeth. Erziehung kann in diesen Dingen nicht viel bewirken. Schon gar nicht, wenn ein Sohn seine Einstellung erst als Erwachsener gefunden hat. Da ist der Einfluss der Eltern gleich null.“
Elisabeth nickte. „Nett, dass du das sagst. Aber was mich belastet, sind nicht eventuelle Erziehungsfehler. Ich bin betrübt, dass er so denkt, egal, wie er dazu gekommen ist. Es ist nicht im Sinne Gottes.“
Weder Aaron noch ich wussten etwas dazu zu sagen, obwohl wir sie gern getröstet hätten. Elisabeth sah unsere Verlegenheit und meinte: „Belastet ihr euch nicht damit! Gott wird uns, Ludwig und mir, die Kraft geben, damit fertig zu werden, wenn wir es nicht ändern können.“
Sie stieg noch zwei Stufen höher und setzte sich auf den Rand der Öffnung. „Natürlich ist es fast unmöglich für alte Eltern, an der Einstellung eines erwachsenen Sohnes etwas zu ändern. Besonders wenn diese Einstellung fanatisch ist und von der Mehrheit der Menschen seiner Umgebung gestützt wird. Ich dachte nur, als Kind und Jugendlicher in unserem Haus hätte er durch den Umgang mit der Bibel und christusgläubigen Eltern gefestigt sein müssen. So gefestigt, dass diese antigöttliche Ideologie bei ihm keinen Nährboden hätte finden können. Aber das war ein Irrtum.“
Nachdem wir alle drei wieder einige Zeit geschwiegen hatten, sah Elisabeth plötzlich auf. „Oh – entschuldigt! Ich habe euch mit meinen Sorgen belastet, dabei sind doch eure Sorgen viel größer! Reden wir nicht mehr davon!“
„Aber Elisabeth!“, sagte ich. „Wir wären wirklich sehr egoistisch, wenn wir die Sorgen der Menschen nicht mittragen wollten, die unsere größeren Sorgen mittragen! Die unsere Sorge zu ihrer eigenen machen! Und das ganz praktisch. Wir danken dir für den Vertrauensbeweis, dass du uns an deinem Kummer teilhaben lässt.“
Ich rückte ein wenig näher und legte die Hand auf ihre Schulter. Sie lächelte mich dünn an.
„Ihr müsst aber keine Angst haben“, sagte sie dann. „Wenn Harald Fronturlaub hat, besucht er Frau und Kind in Wuppertal. Hierher kommt er nicht. Unser Verhältnis ist viel zu ... wie soll ich sagen? ... angespannt, als dass er von den wenigen Tagen Urlaub noch einige bei seinen total altmodisch denkenden Eltern verbringen würde.“
„Das klingt bitter“, stellte Aaron leise fest.
„Ich weiß, bitter soll man nicht werden. Aber, offen gesagt: Ich fürchte, innerlich haben wir unseren Sohn verloren, auch wenn er natürlich unser Sohn bleibt. Und wenn unsre Liebe ihm weiter gilt.“
Ich sagte: „Wohl wissend, dass es kein Trost ist, sage ich es trotzdem: Wenn ihr auch euren Sohn innerlich verloren habt, mit uns habt ihr Freunde gewonnen. Freunde, die euch allerdings nichts nützen, eher belasten. Und wenn es stimmt, was Ludwig neulich sagte, dass Gott irgendwann einmal fragen wird, wo ihr Bedürftigen geholfen habt, dann zeigt auf uns.“
Aaron tadelte mich: „Ach, Rebekka! Es stimmt zwar, dass wir dankbare Freunde sein wollen, aber du kannst uns doch nicht mit ihrem Sohn vergleichen!“
Ehe ich antworten konnte, meinte Elisabeth: „Lass nur, Aaron! Ich weiß, wie Rebekka es meint. Und ich danke ihr dafür. So – jetzt muss ich mich aber um die Hühner kümmern. Und um die Schweine. Und ich meine nicht die Nazis.“
Sie lächelte uns an, während sie rückwärts die Leiter hinunterstieg.
Ein schmutziger kleiner LKW fuhr auf den Hof, und ein Mann in ölverschmiertem blauem Arbeitsanzug stieg aus. Zielstrebig ging er auf die Tenne zu, in der Harald Born seinen Oldtimer stehen hatte.
Stefanie sah ihn durchs Fenster und kam auf den Hof. „Guten Morgen. Kann ich Ihnen helfen?“
„Ich bin angemeldet“, sagte der Fremde. „Ich soll den Wagen von Herrn Born ... “
„Ist schon in Ordnung!“, rief Harald vom Fachwerkhaus aus und kam herüber. „Ich habe Herrn Wehmeier hergebeten, wieder mal“, erklärte er der Frau seines Enkels. „So ein Oldtimer muss immer mal bewegt werden. Und kontrolliert.“
Der Mechaniker nickte. „Und es gibt Teile, die lösen sich auf, auch wenn man gar nichts damit macht. Dichtungen zum Beispiel.“
Harald Born öffnete die beiden hölzernen Flügel. Da stand das Prachtstück, beigefarben und leicht verstaubt.
„Da geht einem das Herz auf!“, behauptete Herr Wehmeier mit einem Blick auf den alten Wagen. „Eine echte Borgward Isabella! Ein Schatz aus einer anderen Zeit!“
Stefanie konnte die Begeisterung der beiden Männer für das alte Auto nicht nachvollziehen. Sie wollte sich wieder zurück an ihre Hausarbeit begeben, entschloss sich dann aber doch, noch eine Weile zuzusehen.
Wehmeier setzte sich in das Auto und wollte es offenbar starten, was aber nicht ging. Lag das an der Batterie? Stefanie hatte keine Ahnung von so etwas. Sie musste aber wohl mit ihrer Vermutung recht gehabt haben, denn der Mechaniker fuhr nun sein eignes Auto dichter heran, klappte beide Motorhauben hoch und stellte eine Kabelverbindung her. Tatsächlich lief bald der Motor des alten Borgward.
Wehmeier fuhr seinen eigenen Wagen etwas zur Seite, um für den Oldtimer den Weg frei zu machen, stieg in diesen ein und fuhr ihn auf den Hof.
„Hier ist mehr Licht und mehr Platz“, sagte er zu dem stolzen Besitzer. „Ich sehe mir erst mal alles an, und dann fahre ich in meine Werkstatt. Heute Abend, spätestens morgen, bringe ich ihn wieder her. Mein Auto lasse ich solange hier stehen. Da stört es doch niemanden, oder?“
„Ist recht, Herr Wehmeier“, nickte Harald.
„Setzen Sie sich mal rein und betätigen Blinker, Bremse und so weiter! Ich kontrolliere die Lichter.“
Er musste jetzt seine Stimme etwas anheben, da gerade in Pauls Werkstatt die Schleifmaschine anfing zu laufen und ein kreischendes Geräusch zu machen.
Offenbar fiel die Kontrolle der Lichter befriedigend aus. Herr Wehmeier setzte sich nun wieder hinter das Steuer des Borgward und kurvte ein wenig auf dem Hof herum.
Stefanie fragte: „Sag mal, Großvater, willst du dir nicht mal ein neues Auto kaufen? Ich meine, es kann ja ruhig gebraucht sein, aber nicht so uralt wie das. Bei dem weißt du ja nie, ob du auch da ankommst, wo du hinwillst.“
„Ich fahre ja sowieso nicht damit. Wo sollte ich denn hinfahren?“
„Na, da muss man doch erst recht fragen, warum du die alte Kiste noch behalten willst und pflegen lässt.“
„Das verstehst du nicht. Es ist ein wertvoller Oldtimer. Der dient nicht zum Fahren, jedenfalls nicht hauptsächlich.“
„Sondern? Als Geldanlage?“
„Auch. Aber vor allem als Liebhaberstück.“
Der Mechaniker hielt kurz an, öffnete die Tür und rief: „Alles klar. Ich fahre dann.“ Er legte den Gang ein und ließ behutsam die Kupplung gehen. Sanft fuhr das alte Auto vom Hof.
„Dass man an so etwas Freude haben kann!“, staunte Stefanie und grinste Harald an. Sie sagte nicht, was ihr auch durch den Kopf ging: Besser, er beschäftigt sich mit einer alten Limousine als mit einem Panzer. Na ja, das ginge wohl schlecht. Aber mit Waffen und solchen Dingen.
„Weißt du, Stefanie, wenn man so jung ist wie du, blickt man in die Zukunft. In meinem Alter blickt man in die Vergangenheit. Du musst dich nach vorn ausrichten, Pläne machen, von Dingen träumen, die du erreichen willst. Bei mir kommt nicht mehr viel. Ich beschäftige mich mehr mit dem, was war.“
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