Bald erhob sich der Vorwurf, Lévi-Strauss vertrete einen holistischen Kulturbegriff, und aus diesem ergebe sich eine solche Abstoßung; doch in der historischen Wirklichkeit bestünden alle Kulturen aus Mischungen und Synkretismen. Dieser Einwand ist kurzsichtig. Denn nur für die Außenstehenden – und Kulturwissenschaftler sind solche –, sind alle Kulturen ebenso wie alle Religionen ›an sich‹ hybride Formationen. Soziologisch ist dieser objektive Tatbestand nicht relevant, weil die innerhalb der betreffenden Kultur lebenden Menschen ihre eigene Kultur niemals als ein ›Hybrid‹ ansehen, sondern als ein einheitliches Sinnsystem. Denn nur zureichend kohärente Sinnsysteme können orientieren. Die Akteure selber sind notwendigerweise Essentialisten und ›Holisten‹. Dem trägt Lévi-Strauss Rechnung. Die politischen Konsequenzen liegen auf der Hand: Weder der europäischen Hegemonie noch dem sogenannten Kolonialismus läßt sich die Abwertung des anderen anlasten. Überall in der Dritten Welt, welche brüderlich vereint stehen sollte, sind demnach Formen des rassischen Hasses endemisch. Damit sprach Lévi-Strauss eine historische Wahrheit aus; aber sie auszusprechen hieß, den Sündenbock für alle Übel − die damalige westliche Suprematie − aus dem Spiel zu nehmen.
So enthält »Race et culture« eine düstere Vorhersage: Wenn es erstens unmöglich ist, sich mit den »anderen« zu vermengen und gleichzeitig mit sich identisch zu bleiben, und wenn zweitens der Mechanismus gegenseitiger Abstoßung gar nicht außer Kraft zu setzen ist, 37und wenn drittens die demographische Explosion zu Agglomerationen ungekannter Größen führt sowie zu kulturellen Vermengungen bisher unvorstellbaren Ausmaßes − dann müssen interkulturelle Feindschaften entstehen, wie es bislang noch keine gegeben hat. Es wird, so prophezeit Lévi-Strauss, ein »régime d’intolérances exacerbées« aufsteigen, das alle bisherigen »haines raciales« zu schwachen Abbildern macht. Lange vor Samuel Huntington hat Lévi-Strauss künftige »clashes of civilizations« angekündigt.
Kommt der Vielfalt der Kulturen ein Eigenwert zu, und ist es geboten, jedwede Besonderheit zu bewahren, dann ist das Vorurteil eben nicht mehr zu bekämpfen, sondern man hat es aufzuwerten. Der Kampf gegen die Diskriminierung des ›anderen‹ wird illegitim. Gewiß, dann ist das Bemühen der UNESCO, überall auf ›gegenseitige Verständigung‹ hinzuwirken, widersinnig: Jede Kultur hat ihren Eigenwert, und die dümmsten Mythen dürfen Achtung beanspruchen, weil sie zum geistigen Repertoire irgendeines Teils der Menschheit gehören.
Alle politischen Massenmörder berufen sich auf die Besonderheit ihrer Kultur. Unter dem Schutzschild der gegenseitigen Achtung ist jede Kultur befugt, in ihrem Inneren die Menschenrechte in einem Ausmaß zu mißachten, wie sie allein es für richtig befindet. Eine Einmischung von außen hieße ja, die Achtung zwischen gleichwertigen Kulturen zu verletzen. Die »Eigenart«, welche faktisch immer eine Resultante semantischer Kämpfe ist, homogenisiert sich unter politischem Hochdruck und verwandelt sich in ein stählernes Gehäuse. Sie macht ihre Menschen zu Insassen im unentrinnbaren Käfig ›ihrer‹ Kultur. Alain Finkielkraut hat dies in »Die Niederlage des Denkens« ausgedrückt: Die UNESCO verfällt jener Idee eines »Volksgeistes« Herderscher Prägung, welche das reaktionäre Denken gegen den Universalismus der Aufklärung in Stellung brachte. Der Ethnopluralismus unterwirft den einzelnen Menschen den Launen seiner Kultur ebenso sehr, wie die Rassenlehre es einst tat.
Schlimmer noch: Wenn alle Kulturen in sich selber die höchste Wertigkeit finden und es kein ›Gesetz‹ über ihnen gibt, dann hat die exterminatorischste Kultur dieselbe Daseinsberechtigung wie alle anderen, glaubt sie doch ernsthaft, andere Kulturen und Völker ausrotten zu müssen, um selber leben zu können. Sogar in diesem Glauben folgt sie noch ihren eigenen Werten. Auf den kulturalistischen Hasen wartet längst ein wohlbekannter Igel: Mit welchem Recht könnte man den Nationalsozialismus verurteilen? Die Versklavung der Osteuropäer und die Vernichtung der Juden gehörte zur essentiellen Besonderheit − zur ›Differenz‹ − der emergierenden NS-Kultur. Diese liefert das konsequenteste Exemplum dafür, wohin die Selbstermächtigung treibt, die jeweilige kulturelle ›Eigenart‹ zu verteidigen – und zwar mit denjenigen Mitteln, die man selber für geboten hält. In demselben Maße wie die Geltung universaler Werte entweicht, hört Auschwitz auf, ein Verbrechen zu sein.
Lévi-Strauss hat das fundamentale Dilemma aufgezeigt, über das man bei der UNESCO immer den Deckel hielt. Es hätte andernfalls eine klare Entscheidung verlangt: Universalismus oder Ethnopluralismus/Multikulturalismus? Denn eine Kultur als ›gleich‹ anzuerkennen, deren moralische, religiöse oder politische Erfordernisse vorsehen, gewissen menschlichen Gruppen das volle Menschsein abzusprechen, andere teilweise zu entrechten, ist widersinnig. Den Grund dieses Widersinns kann jeder gebildete Europäer leicht einsehen, der sich auf die griechischen Grundlagen unserer Kultur besinnt: Der Begriff der Gleichheit ist ein wesentlich politischer und setzt voraus, daß die Gleichen sich ein und demselben Gesetz unterstellen und gleichen Ansprüchen gehorchen.
Halten wir fest: Die geschichtsphilosophische Frage nach dem Fortschritt wird aufgefangen in der Antwort, die Kulturen seien gleich. Doch gleich können sie nur sein, wenn sie untereinander kommensurabel werden. Sind sie inkommensurabel, dann zerbricht der Begriff der Einheit des Menschengeschlechts. Lévi-Strauss eliminiert die Denkmöglichkeit einer gemeinsamen Geschichte der Menschheit restlos. Diese Geschichtsphilosophie ohne Geschichte besticht mit ihrer konsequenten Ablehnung der Globalisierung sowie deren politisch-moralischen Implikationen. Indes, sie hat sich als selbstgesponnenes antiuniversalistisches Gewebe um den Anthropologen gelegt und sich zum Käfig verhärtet. Nach dem Sieg des Front National in Dreux gab Lévi-Strauss am 21. Oktober 1983 ein Interview; dabei stellte er die multikulturalistischen Positionen auf dieselbe Stufe wie die rechtsextremen: »Diese Ideen scheinen mir nicht illegitimer oder schuldhafter zu sein als die umgekehrten Ideen, deren Auswirkungen auf die öffentliche Meinung wir verspüren. Die ersteren zum Sündenbock zu stempeln, ohne die Risiken der zweiten einzuschätzen, ist pure Inkonsequenz. Bei diesem Thema existieren zwei entgegengesetzte Verirrungen, die einander wechselseitig erzeugen.«
Der Ethnopluralismus der ›Neuen Rechten‹ ist ebenso legitim wie der Multikulturalismus, denn sie beruhen auf denselben Axiomen. In der Tat, beide sind einander feindliche Zwillingsemanationen desselben Antiuniversalismus. Nicht verwunderlich also, daß Lévi-Strauss sechzehn Jahre vor dem 11. September die ethnologische Pflicht anspricht, ›seine‹ Kultur zu schützen gegen einen erneut erobernden Islam:
»Unsere Kultur ist in der Defensive gegen äußere Bedrohungen, zu denen wahrscheinlich die islamische Explosion zählt. Und augenblicks fühle ich mich unbeirrbar und in ethnologischer Hinsicht als Verteidiger meiner Kultur.« 38
Zur Beerdigung des Multikulturalismus läutet Lévi-Strauss die Glocke kultureller Selbstbehauptung. Der große Anthropologe denkt gar nicht daran, in universalen Rechten die Zuflucht zu suchen, um den Frieden der Kulturen zu denken. Statt dessen geht er den Weg des Ethnopluralismus – bis ans bittere Ende.
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