Die Pubertät des Narren (Befreiung von den Eltern durch die Verbindung von Animus und Anima)
An der Schwelle zur persönlichen Entwicklung und Freiheit ist es nun die Aufgabe des Menschen, sich allmählich an seine eigene Schuhgröße heranzutasten. Es geht darum, seine gegengeschlechtlichen Seelenteile zu erfühlen und sich mit dem erklärten Ziel, Animus und Anima miteinander zu vermählen (die Liebenden miteinander zu verbinden), zu befassen, nachdem er sich mit den Elternbildern der ersten Karten auseinandergesetzt hat. Hat er sich von den hinderlichen Elementen der Tradition und der geistigen Autorität, der Last von Recht und Ordnung, von der noch weit schwereren Last des teilweise unbewussten Über-Ichs mit seinen verlogenen Maskierungen als Gewissen und Moralität, erstmals befreit, muss er nun beweisen, dass er sich in der Welt allein zurecht finden kann. Allmählich wird er von den Flammen der Libido erfasst, die nur für denjenigen gefährlich werden, der vor dem Erwachsenwerden davonlaufen will – denn die Pubertät ist voll im Gange. Je schneller er den Weg in die eigene Sexualität akzeptiert, desto leichter wird ihm die Entscheidung fallen. Wenn nichts schief geht, besteigt er in der nächsten Karte den magischen Wagen Agape und Thelema , Liebe und Willen, der ihn in seiner Entwicklung weiterbringt.
Im beruflichen Erlebenliegt der Schwerpunkt der Karte auf der Entscheidungsebene, im Bereich, wie wir uns nach Abwägung aller gegebenen Fakten in Übereinstimmung mit unserem eigenen Empfinden zu verhalten haben (denn dem Archetyp dieses Bildes liegt ein eminentes Streben nach Verschmelzung mit den Plänen der Umwelt zugrunde, weil alles, was wir suchen, die Realisierung der Wünsche ist, die die anderen träumen). Schließlich beherrscht keiner der Trümpfe den Balanceakt zwischen Realität und Unbewusstem so perfekt wie diese Karte: den Doppelsalto, so unbeschwert und heiter zwischen Ja und Nein, Machen und Lassen tanzen zu können. Das gibt auch Goethes angestaubter Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust- Poesie wieder ein bisschen »multipersonalen« Auftrieb, denn meist sind es mehr als zwei Persönlichkeitsteile, die sich nicht entscheiden können, welche der unzähligen eventuellen Gewinne sie einer Entscheidung opfern wollen. Dann sitzen wir zwischen den Stühlen und wissen nicht, nach welcher Seite wir uns orientieren sollen. Es ist klar, dass wir nicht die ganze Bandbreite unserer Entscheidungsmöglichkeiten ausschöpfen können, in der trügerischen Hoffnung, irgendwann alle unsere Gelegenheiten in einer einzigen und universalen Geste zu krönen; es ist aber auch nicht so, dass wir mit den Liebenden nicht trotzdem zu glücklichen Entscheidungen kommen können, wenn wir lernen, Unwichtiges loszulassen und nicht an jedem »Hirnfurz« kleben zu bleiben, um das, was wir wirklich begehren, zu erhalten.
In Beziehungsfragensetzen wir uns lieber mit den Problemen der anderen auseinander, um die Liebe sozusagen aus der Entfernung über das Harmoniestreben im anderen zu leben, statt uns um unsere eigenen Gefühle zu kümmern. Unser diplomatisches Gespür, uns in den Mittelpunkt unseres Interesses zu stellen, sichert uns die Aufmerksamkeit unserer Umwelt. Doch in der Selbsttäuschung verhangen, alles um uns herum harmonisieren zu müssen, sind Liebe und Beziehung in dieser Zeit eher Lostopf-Interessengemeinschaften mit der Möglichkeit der Ziehung des Hauptgewinns als eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem anderen. Was wir erfahren wollen, ist nicht die gemeinsame Erfüllung, sondern die Erfüllung der Sehnsucht nach sich selbst. Deshalb macht uns der alte Zauberer mit seinen schützenden Armen auch darauf aufmerksam, dass wir nur neue Erfahrungen machen, wenn wir unsere innere Unvollständigkeit erkennen. Das, was uns fehlt, müssen wir in uns selbst verwirklichen, denn das Verlangen, das verlorene Paradies durch das verzweifelte Verschmelzen mit der Umwelt zu erlangen, kann sich nicht erfüllen, solange wir unsere innere Leere nur durch eine Bindung an die uns »ergänzende« Umwelt verdrängen. In diesen Fällen sind die Liebenden eine Aufforderung, über unser aufgeschäumtes Bild vom anderen zu dessen eigentlichem Wesenskern vorzudringen, statt um jeden Prinzen oder jede Prinzessin immer wieder einen neuen Projektionsbilderrahmen zu zimmern.
Die Liebenden in der Alchemie
– Tiefergehende Erkenntnisse –
Solve et coagula
Die alchemistische Formel solve et coagula , löse und verbinde, wird hier auf die beiden Karten VI – Die Liebenden und XIV – Kunst verteilt. Sie stehen sich dabei wie die beiden sich ergänzenden Teile einer gemeinsamen Sache gegenüber, zwei Waagschalen, deren Kipp-Punkt sich in der Karte Glück oder Schicksalsrad befindet. Das ergibt auch durch die astrologische Brille Sinn, denn im Tierkreis befinden sich Zwillinge und Schütze in Opposition. Diese beiden Karten sind also so etwas wie die »Brückenköpfe«, die den Entwicklungsprozess der Karten VII bis XIII umschließen. Der Vorgang des solve assoziiert sich mit den Liebenden , der des coagula mit der Karte Kunst .
Bevor wir tiefer in die Materie eindringen, fassen wir noch einmal die Essenz dieser Verbindung zusammen: Die Notwendigkeit der Analyse (Teilung) wird in den Liebenden durch die Paare (Lilith – Eva, König – Königin, Lanze – Gral, weißes und schwarzes Kind und Löwe und Adler) symbolisiert. Als operatives Instrument, um die Teilung vorzusehen, bietet sich die höhere Absicht an, die sich unter dem Decknamen Liebe unter Willen in Amors Köcher versteckt. In der crowleyschen Art, alles miteinander zu verknüpfen und in sein Weltbild einzubinden, was je als interessanter Einfall sein Hirn passierte, hat er die Kinder aus der Karte Die Liebenden aufgrund seiner Visionen in der Wüste9 zu Kain und Abel erklärt und damit die Paradiesgeschichte ein bisschen uminterpretiert. Er kommentiert: Es gibt eine Legende von Eva und der Schlange, denn Kain war das Kind von Eva und der Schlange und nicht von Eva und Adam; aus diesem Grunde hatte Kain, nachdem er seinen Bruder erschlug, das Zeichen auf der Stirn, welches das Zeichen des in der Apokalypse erwähnten Tieres 666 ist.10
Die feindlichen Brüder (Der 2. Aethyr)
Auf der Karte wird Kain als schwarzer Junge mit einer Keule dargestellt, der die Lanze seines Vaters stützt, während Abel mit einem Strauß Rosen in der Hand den goldenen Kelch seiner Mutter umfasst. Der historische Abel, gut, sanft, schwach und gottergeben wurde vom »bösen« Kain aus Neid erschlagen, der es nicht verkraften konnte, dass Gott seine Opfergabe ablehnte und die seines Bruders vorzog. So starb der erste Mensch auf dem Opferaltar des Missverständnisses, eine Tat, durch die sich nicht nur der Boden mit Abels Blut färbte, sondern die sich wie ein roter Faden bis in die heutige Zeit hinzieht, solange der Mensch es nicht begreifen kann, dass die Liebe nicht teilbar ist und sich keinem verschließt, auch wenn sie die anderen ebenso mit einbezieht.
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