„Ich will dahin.“ drängelt Sten. Ja, ich auch, doch bei dem Wetter? „Ich will dahin!“ Hm, bin ja dabei, mich meinen Befürchtungen zu stellen und schenke dem Schicksal mein Vertrauen. Es hat mich nicht enttäuscht in den vergangenen Wochen. Also wird es wissen, was heute das Beste für uns ist. Mardin, die letzte Stadt vor der zwanzig Kilometer entfernten syrischen Grenze, hat mich in der vergangenen Nacht extrem unruhig schlafen lassen. Gekämpft wird in diesem Gebiet seit Monaten. Von MAN Fahrzeugen wurde uns erzählt, die das Militär hier fährt. Also Achtung, extreme Verwechslungsgefahr! Ich kann nur sagen, ein merkwürdigeres Gute Nacht habe ich uns noch nie gewünscht. Wissen wir denn, ob uns in der Dunkelheit nicht jemand einen Sprengsatz an den Leo bastelt? Wissen wir nicht. Folglich haben wir keine Ahnung, ob wir am nächsten Morgen gemeinsam aufwachen werden und wenn, wo wir dann sind. Nun, lange Rede, kurzer Sinn. Unser Schutzengel hat ganze Arbeit geleistet. Wir leben noch! Die Stadt unbeschadet hinter mir zu lassen, fühlt sich gut an. Auch wenn sie zu anderen Zeiten bestimmt ihren architektonischen Reiz hat. Mir war das hier ehrlich gesagt gerade völlig egal. Angst ist Angst und Gefahr ist Gefahr. Da merke ich einfach nur, wie ich an meinem Leben hänge. Also, nach vorn geschaut, den Bergen entgegen. Und eben da gibt es am Gipfel, dem Nemrut Dagi, unweit des Oberlaufs des Euphrats, im nördlichen Mesopotamien, die Götterköpfe, welche die griechische und persische Mythologie in der Zeit 69 bis 36 v. Chr. miteinander vereinen sollten. Sten will sie sehen. Ich auch. Und was sagt Leo zu den steilen, vereisten Straßen mit engen Kurven und schroffen Abhängen? Sten fährt. Ich halte den Mund. Verkralle mich in meinem Sitz. Als ob mir das was nützen würde, wenn wir abstürzen.
Stopp, stopp, scheint ein Mann in dünnen Slippern mit Ledersohle zu rufen, doch wir nehmen ihn vor lauter Fokussierung auf die Straße kaum wahr noch ernst. Er muss sich uns fast vor den Leo werfen, bevor wir begreifen und halten. Es ginge hier nicht weiter. Sechs Meter hoch läge der Schnee auf der Straße. Ein Vor und Zurück ist nicht möglich, kehrten wir nicht an diesem Punkt um. So seine aufgeregte Rede. Zwei Wanderer hätten sich in der Morgendämmerung auf den Weg zu den Köpfen gemacht. Ein Nothilfesignal haben sie nun abgegeben und werden gerade gesucht. Stille. Sten ist stumm. ‚Was macht er jetzt‘, fragt es in mir. Wie schafft er es, sich nun selbst davon zu überzeugen, dass ein Umkehren keine Blöße wäre. Ich sag lieber nichts. Jedes Wort kann in solch einem Moment das falsche sein! Na ja, wenn der sagt, dass es zwecklos ist, dann wende ich jetzt mal. Hören meine Ohren ihn tonlos sagen. Ich, weiter stumm, warte ab. Rückwärts Rutschen hat voll seinen Reiz. Nur mit elf Tonnen dahinter hat das schnell was von einem Geschoss. Ganz behutsam bewegen wir uns Zentimeter für Zentimeter. Sten hat den Ernst der Lage erkannt. Wir beginnen wieder miteinander zu reden. Wie wir das Manöver auf der engen Bergstraße angehen. Wie wir versuchen, rückwärts bergab aus der Kurve zu kommen, an welcher Stelle wir beschließen, zu wenden. Ich weiß nicht mehr wie, doch wir haben es geschafft, irgendwann in Fahrtrichtung zu stehen.
Und da ist er wieder. Unser Mann in den Lederschühchen. Die sind hin, denke ich, während ich gleichzeitig höre, dass er uns zum Frühstück in das Haus seiner Mutter einlädt. Schicksal, ich küsse dich! Was bist du für ein Zauberer der passenden Momente! Ein kleiner Eisenofen ist der unangefochtene Mittelpunkt des Raumes. Ein dreijähriger Junge schaut verschämt. Seine dunklen Augen fixieren uns. Eine Frau tritt ein, seine Mutter. Groß und schlank, mit langen raschelnden Röcken. Ein Tuch bedeckt ihren Kopf. Doch es verhüllt sie nicht. Hebt mehr noch ihre natürliche Schönheit hervor. Ein schlafendes Baby auf dem Arm. Sie steht, wir sitzen auf dem Boden. Vor uns ein großes handgefertigtes rundes Tablett aus Metall. Darauf Schüsseln und Schälchen voller Honig, Nüsse und Streichkäsearten. Wir sind bei Kurden zu Gast. Und fühlen uns so unglaublich wohl in ihrem Haus, in den Händen ihrer Freundlichkeit. Wechselseitig sind wir das Betrachtungsobjekt des jeweils anderen. Ja, wir sind uns fremd, und ja, wir sind uns bewusst, dass eine Begegnung alles ändert. Für mich ein Atem-Anhalte-Moment. Einer von denen, die mich in meinem Inneren umbauen.
Beobachte ich ihn von Weitem, meine ich, einen Pianisten vor mir zu sehen. Seine Bewegungen gezielt und sparsam, seine Gesten liebevoll und sanft. Den schlanken Körper hat er in einen schwarzen Pulli und eine ebenso dunkle Cordhose gesteckt. Worte, augenscheinlich nicht sein Ding. Dafür Blicke um so mehr. Blicke, die tiefgehen und dann dort verweilen. Wie ist das möglich, wie funktioniert so etwas?
Wir sind im quasi letzten Ort der Türkei. Ganz im Osten, im Zipfel, an dem sich Syrien, der Iran, Irak und die Türkei die Stoffenden reichen. Keine Gegend unbedingt meiner ersten Wahl. Doch genau da, an diesen Orten scheinen die Wunder zu wohnen. Ist es, weil ich hier lechze nach jedem positiven Gedanken? Macht die Härte des Alltags die Menschen hier in ihrem Wesen sanftmütiger und wohlwollend? Irgendwie scheint es etwas mit dem Gleichgewicht der Kräfte zu tun zu haben. Kein Ort ist einfach nur schön oder lebensuntauglich. Die Medaille hat immer zwei Seiten. Das ist pure Logik. Und gut. Doch so weit bin ich noch nicht, als wir durch das vom Tauwetter tropfnasse Tal in Richtung Einsamkeit fahren. Außer türkischer Armeeposten mit Sandsack-Barrikaden scheint es hier wenig Leben zu geben. Was freue ich mich, als nach Kurve Nummer Unendlich der Ungewissheit nicht nur die Sonne hinter den Wolken hervorlugt, sondern am Hang die kleine Stadt sichtbar wird. Ich komme mir vor wie in meiner eigenen Fernsehberichterstattung. Als sähe ich mich selbst im TV. Der Ort Hakkari ist gezeichnet von vielerlei Angriffen, höre ich mich ins Mikro sprechen. Stacheldraht ersetzt hier die Gartenzwerg-Romantik. Militärbasis scheint der Untertitel des Stadtnamens zu sein. Das Schmelzwasser fließt in Rinnsalen nach unten, wir tuckern im kleinsten Gang entgegengesetzt nach oben. Auch hier winken uns die Kinder zu, wie überall. Nur wohin wir wollen ist uns nicht klar. Zwei Worte haben wir auf unserem Zettel stehen, Hakkari und Ali. In Hakkari sind wir nun, doch Alis scheint es hier so viele zu geben wie in Deutschland Meyers. Und trotzdem will es unser Schicksal scheinbar auch hier, dass wir unseren Ali finden. In einem Möbelladen sitzen wir so lange und trinken Tee, bis der Besitzer alle Alis des Orts abtelefoniert zu haben scheint. Einer von ihnen meinte, Gäste zu erwarten. Das ist er, unser Ali, der im schwarzen Pulli und Cordhose. Atil aus Nemeshir hat ihn uns als einen Freund empfohlen. Und so stehen wir mit einem Mal voreinander. Sprechenden Auges, erzählender Gesten, denn die Sprache des anderen kennen wir jeweils nicht. Zu seinem Haus führt er uns. Leo, nie so sicher bewacht wie hier. Direkt neben den auf Anschlag gehaltenen Maschinengewehren im Sandsack-Bunker. Die Kamera lasse ich lieber mal stecken. Will die wachenden Posten nicht provozieren. Wie sich das anfühlen mag, so in direkter Nachbarschaft mit Gewehrläufen zu wohnen? Wahrscheinlich ist auch hier Gewohnheit alles. Und jeder Tag der friedlich endet, ein guter Tag.
Atil scheint Ali am Telefon von unserem Kochprojekt erzählt zu haben. Doch wie nun weiter in unserer stummen Konversation? Alis Frau Cimen bereitet uns Tee, den ich wegen seiner Stärke nach dem vierten Glas zitternd ruhen lasse. Ihr kleines Kind wacht auf, beschaut die so anders aussehenden Besucher. Wieder eine Erkenntnis für mich. Überall wollen die Menschen einfach nur in Frieden ihr Familienglück leben. Wollen sehen, wie ihre Kinder aufwachsen, in der Hoffnung, dass es ein gutes Leben ist, in welches sie die Kleinen hineingebären.
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