„Nein, is er nich“, widersprach Tobias. Anscheinend hatte das Mädchen in seinem Erstaunen laut gesprochen.
„Was nicht?“, fragte Nina.
„Kein Mackir“, sagte Tobias und lächelte. „Zu Toto er sag, sei ein Slinx.“
„Sehr lustig“, fauchte Nina. „Das ist kein Scherz, okay? Hier stimmt irgendetwas überhaupt nicht! Außerdem gehörst du nach Hause.“
„Ja, nach Ause“, pflichtete Tobias ihr bei und klatschte in seine Patschhändchen. „Ja, ab nach Ause, Ina.“
„Heute wird das nichts mehr. Bis morgen wirst du wohl hierbleiben müssen“, entschied Nina. „Am besten, wir rufen zu Hause an.“ Doch zunächst einmal lehnte sie sich gegen die Eiche und starrte in den wolkenlosen Himmel.
„Anufen?“, fragte Tobias.
„Hm“, brummte Nina. „Gleich.“ Doch irgendwann – sie spürte es und konnte doch nichts dagegen tun – glitt sie in die Welt der Träume.
Mia weckte sie wutschnaubend und verkündete, dass die Jungen Pias Fotoapparat geklaut hätten.
„Och Mensch! Kann man nicht mal in Ruhe schlafen?“, gähnte Nina und rappelte sich auf. Doch die Eiche war nicht gerade der perfekte Ort zum Schlafen gewesen, denn ihr Rücken schmerzte.
„Tobias schläft im Zimmer“, rief Mia, die schon vorgerannt war. „Wir haben ihn dort hingebracht. Ist doch okay, oder?“
„Klar. – Wer hat ihn geklaut?“, wollte Nina wissen und rannte Mia hinterher. „Also nicht Tobias, den Fotoapparat meine ich.“
„Alle zehn Jungen. Sie haben uns abgelenkt!“
Stöhnend lief Nina hinter ihrer Freundin her, quer über das gesamte Gelände der Jugendherberge und hinein in den Wald.
„Wo sind sie?“ Jana schaute sich suchend um.
Alle Mädchen hatten sich an einer Weggabelung eingefunden. „Ich habe keine – ah!“, kreischte Pia, denn einer der Jungen hatte sich von hinten an sie herangeschlichen und war ihr in den Nacken gesprungen. Jetzt lagen sie beide im Schlamm und lieferten sich eine Schlacht, bei der sie nach ein paar Sekunden an Erdferkel erinnerten.
„Gebt meine Kamera her, sofort!“, rief Pia und spuckte Schlamm auf den Boden.
„Wir helfen dir!“ Die Mädchen kamen hinzu, nur leider auch die Jungen, und die waren in der Überzahl. Nach etwa fünfzehn Minuten rückten die Jungen endlich den Apparat heraus und behaupteten, sie hätten ihn sich nur ansehen wollen.
Zurück in ihrem Zimmer stürzten die Mädchen nacheinander unter die Dusche. Danach schlichen sie ins Zimmer der Jungen, dessen Tür, wie Tobias, der inzwischen wieder wach war, netterweise für sie herausgefunden hatte, nicht verschlossen war, und klauten den Jungen alle Schuhe, die sie finden konnten.
„Oh, die stinken!“ Jana hielt sich die Nase zu, während sie zwei Paar Turnschuhe hin und her wedelte. „Wo verstecken wir sie?“, fragte sie mit zugeklemmter Nase, was sich ziemlich witzig anhörte.
„Am besten bei uns, oder?“ Jana hielt Jonas’ Schuhe so weit es ging von sich weg und verließ vor den anderen das Zimmer der Jungen.
„Nee, am besten im Mädchenklo“, schlug Pia vor und ging voraus.
Nina verließ das Zimmer der Jungen als Letzte, stellte die Schuhe ab und schloss die Tür, bevor sie den anderen hinterherrannte. Sie versteckten die Schuhe sorgfältig in verschiedenen Kabinen der Mädchentoilette und gingen danach wieder in ihr Zimmer.
„Das war super.“ Mia zwinkerte mit den Augen, warf sich auf ihr Bett, kramte ihr Tagebuch aus dem Koffer und begann darin zu schreiben. Jana und Pia begannen eine Schachpartie und Maria erklärte, sie würde jetzt ihr Pferdebuch weiterlesen, was niemanden außer sie selbst interessierte.
Nina seufzte und stand eine Zeit lang unschlüssig im Raum. Dann entschwand sie im Badezimmer, um sich den restlichen Dreck abzuwaschen, der sich trotz Duschens hartnäckig in ihren Haaren festgesetzt hatte.
Eine halbe Stunde später saß die Klasse im Hauptgebäude und aß zu Mittag. Nina war etwas hibbelig, weil sie es nicht erwarten konnte, Herrn Malan am nächsten Tag endlich all ihre Fragen zu stellen. Was hatte er noch mal gesagt? Zehn Uhr morgens in dem Raum, vor dem sie gelauscht hatte? Woher wusste er das? Und was wollte er ihr wohl sagen?
„Wir unternehmen heute einen Ausflug auf eine weitere Insel, die ihr euch nach eurem Belieben anschauen könnt“, verkündete Frau Barinkson, als sich alle Schüler nach dem Essen um sie versammelt hatten. „Wir fahren wieder mit einer Fähre, aber vorher erst ein paar Kilometer mit dem Bus. Macht euch also fertig und kommt dann zum Parkplatz, dort werden wir nämlich schon erwartet.“
Nach vierzig Minuten langweiliger Busfahrt, die die Mädchen damit zubrachten, sich gegenseitig zu fotografieren, kamen sie endlich am Hafen an und mussten sich in eine lange Menschenschlange einreihen, wo sie auf die Fähre warteten. Tobias war nicht mitgekommen, der Leiter der Jugendherberge hatte sich freundlicherweise bereit erklärt, ihn mit in sein Büro zu nehmen und ein bisschen mit ihm zu spielen.
„Guckt mal, ich sehe die Fähre!“ Maria hüpfte hoch und holte ihren Fotoapparat aus dem Rucksack, um ein paar Fotos zu machen.
Das Einschiffen ging endlos langsam voran und Nina begnügte sich damit, mit Jana über ihre Sommerferienpläne zu sprechen.
„Wir fahren nach Italien“, sagte Jana, während sie sich Schokolade in den Mund schob. „Ganze drei Wochen! Meine Eltern wollen sich Museen anschauen – mh, die Schokolade ist wirklich lecker, Luftschokolade, musst du auch mal probieren! –, doch ich habe darauf keine Lust und bleibe lieber am Strand. Das gibt bestimmt wieder Streit.“
„Und wir“, Nina nickte und nahm ein Stück Schokolade, „fliegen nach Spanien. Meine Eltern haben Verständnis dafür, dass ich keine Lust habe, in den Ferien ins Museum zu gehen. Zum Glück. Und ich glaube, Tobias würde es auch nicht sonderlich gefallen.“ Sie kicherte.
Frau Barinkson gab dem Mann an der Kasse die vorab gebuchten Tickets und die gesamte Klasse durfte die Fähre betreten.
„Wenn die Fähre nachher anlegt, treffen wir uns draußen, dort, wo Herr Pikk und ich warten!“, rief Frau Barinkson. Dann zog der Mathelehrer sie weg.
„Wer als Erstes an Deck ist, bekommt eine Tüte Gummibärchen!“, rief Mia, und sie rannten alle los, die Treppe nach oben.
„Erster!“, keuchte Nina und nahm die versprochene Tüte entgegen. Sie setzten sich auf die Plastikbänke und schauten auf das Meer, das sich weit und schön vor ihnen ausbreitete.
Doch plötzlich …
„Nina!“
Das Mädchen, das ganz in Gedanken versunken war, schreckte hoch. Verständnislos schaute Nina die anderen an, die fassungslos auf sie zeigten.
„Du brennst regelrecht!“, sagte Maria kopfschüttelnd.
Nina saß an sich herunter – es stimmte. Aber das Feuer wurde schwächer und erlosch schließlich gänzlich.
„Was geht hier vor?“, kreischte Mia hysterisch. „Das geht doch alles nicht mit rechten Dingen zu! Ich halte das nicht mehr aus! Was hast du mit der Sache zu tun?!“ Sie fuchtelte mit ihren Armen vor Ninas Nase herum.
Auch die Mitschüler starrten gebannt auf das Mädchen.
„Ich weiß es doch nicht!“, brüllte Nina zurück. „Was kann ich denn dafür? Hier passieren unnormale Dinge, klar! Aber ich weiß genauso wenig wie du!“
Herr Malan, der gerade in der Nähe stand, ging dazwischen. „Das war bestimmt Einbildung“, erklärte er sachlich. „Sonnenstrahlen werden gebrochen und wirken dann so, als würden Gegenstände in der Nähe brennen, was sie aber nicht tun.“
Ninas Freundinnen schienen sich mit der Theorie zufriedenzugeben, vor allem weil sie von einem Lehrer stammte, dem sie wegen seines umfassenden Wissens nur zu gern glauben wollten. Aber all die merkwürdigen Ereignisse – nein, da stimmte etwas nicht. Das war zumindest Nina klar. Und dass Sonnenstrahlen, wenn sie gebrochen wurden, Gegenstände oder Menschen aussehen ließen, als würden sie brennen, davon hatte sie noch nie etwas gehört. Ihre Freundinnen redeten unbefangen weiter, während Nina schweigend auf das brodelnde Wasser unter dem Kiel der Fähre schaute.
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