Ahnte Grevenhagen schon etwas von der Sache? Hoffentlich nicht. Er konnte ja doch nichts tun, als den Angriff an sich ablaufen lassen und die Folgen abwarten. Das Thema für die ›Stille Klause‹ stand jedenfalls fest.
Als Wichmann des Abends nach Hause kam und gebürstet, gekämmt im besseren Rock erschien, um mit der Geheimrätin unter dem Ölporträt des alten Geheimrats Krautwickel zu speisen, sah er auf einem Nebentisch das ›Nachrichtenblatt‹ liegen und verschluckte sich beim ersten Bissen.
»Ach, Herr Doktor Wichmann, was sagen Sie nur zu diesem entsetzlichen Skandal! Daß man so etwas erleben muß in unserer Kreuderstraße! Bei dieser Familie! Mich traf fast der Schlag, als heute beim Tee der Frau Rohrbach schon alles davon sprach! Ich hatte ja einiges unter der Hand gehört, was mich tief erschütterte …«
»… von Martha?«
»Ach … hat sie mit Ihnen auch darüber gesprochen? Ich kann mich noch gar nicht fassen. Es ist unbegreiflich. Wie werden die alten Exzellenzen darunter leiden! Was sagt man denn im Ministerium dazu?«
»Da werden so ein paar Anwürfe in einer wenig angesehenen Zeitung wohl unbeachtet bleiben. Grevenhagens Ehrenhaftigkeit ist über jeden Zweifel erhaben.«
»Das denken Sie doch auch? Nicht wahr? Aber diese Sache mit Schomburg und diese entsetzliche Szene – hat Ihnen Martha das auch erzählt? Frau Grevenhagen hat ihrem Gatten doch jede weitere Auskunft über ihre finanziellen Verhältnisse verweigert. Was will er machen? Die Bank ist zur Diskretion verpflichtet. Er kann sich überhaupt nicht orientieren.«
»Ich nehme an, daß er der Mann dazu ist, doch zu erfahren, was er wissen will.«
»Ja, aber wie? Er kann seine Frau doch nicht prügeln oder würgen. Scheiden lassen dauert lang – um Gottes willen, was ist denn los?«
Auch Wichmann war aufgesprungen. Ein lauter Ruf oder Schrei einer menschlichen Stimme war von der anderen Straßenseite her ins Zimmer gedrungen. Martha stürzte aufgeregt, mit aufgerissenen Augen herein. »Frau Geheimrat! Um Gottes willen! Sie bringen sich drüben um!«
Die beiden Frauen liefen in Wichmanns Zimmer an die geöffneten Fenster. Martha rang die Hände.
»Die junge Frau hat laut geschrien – sie hat Worte gerufen – habe nichts verstehen können – jetzt ist es wieder still.«
Wie zu allen Tagen breitete der Ahornbaum sein Laub über die eiserne Pforte. Rosenduft zog durch den Abend. Das eine sichtbare Fenster der Gartenvilla war durch den Vorhang gegen außen abgeblendet. Im Zimmer schien Licht zu brennen, wie ein heller Schein verriet.
»Mein Gott, mein Gott, Herr Wichmann, was werden wir noch erleben müssen! Was haben Sie denn gehört, Martha?«
»Ich will doch gerade dem Herrn Assessor das Zimmer für die Nacht fertigmachen – lasse die Fenster noch auf, wie er’s gern hat und bin an der Couch – da höre ich einen Schrei – ja, die Tür hatte ich auch offengelassen, deshalb wird es die Frau Geheimrat auch gehört haben – und es muß drüben ein Fenster offen gewesen sein oder vielleicht nur angelehnt – und ich horche sofort, und da wird drüben noch etwas laut gerufen – ein paar Worte – es war die Stimme der jungen Frau – und dann ist es gleich wieder ganz still gewesen. Aber an dem Fenster, das man drüben sehen kann, hat sich nichts gerührt.«
»Es ist ja grauenvoll – sehen Sie, unsere Nachbarn sind auch alle an den Fenstern – ein solch entsetzlicher Skandal! Ich werde heute nacht kein Auge zutun. Was wird denn nur geschehen sein!«
»Eine eheliche Auseinandersetzung, gnädige Frau, ist sicher nicht so schlimm. Die junge Frau Grevenhagen bleibt meist sehr ruhig, doch ich glaube, wenn ihr Temperament erst ins Schwingen kommt, kann sie auch einmal sehr heftig werden. Wir dürfen aber in Frieden schlafen, ohne uns Sorgen zu machen, davon bin ich überzeugt.«
»Es ist eine Wohltat, Ihre besonnene Stimme zu hören, Herr Doktor. Es scheint nun auch wirklich wieder Ruhe eingekehrt zu sein. Was muß das für eine Szene gewesen sein. Mein Herz klopft noch wie ein Hammer. Aber kommen Sie – die Krautwickel und die Kartoffeln werden kalt.«
Man begab sich wieder zu Tisch.
»Ich würde auf Martha einwirken, gnädige Frau, damit sie sich möglichst wenig an dem Klatsch über die Kreuderstraße 3 beteiligt und auch ihre Freundin Fanny warnt. Die Mädchen wissen ja gar nicht, was sie anrichten und wie sie sich selber womöglich noch Unannehmlichkeiten zuziehen können.«
Wichmann nahm sich die zweite Krautrolle. Essen mußte man schließlich.
»Aber habe ich Ihnen nicht immer gesagt, Herr Doktor, diese Heirat war ein Unglück?! Die alten Exzellenzen tun mir maßlos leid! In dem Artikel ist ausgedrückt, daß vielleicht noch viel mehr Verpflichtungen bestehen als die gegenüber Schomburg – und denken Sie, ein paar hunderttausend Mark Vermögen von Vater und Großvater auf den Tisch legen für die Schulden von solch einem Weibsstück! Es ist unerhört!«
»Es kommt darauf an, gnädige Frau, welchen Bruchteil des Vermögens der Betrag darstellt.«
»Ja, reich sind die Grevenhagen, Herr Doktor, aber solche Schulden sind kein Pappenstiel. Nein, wenn das mein Mann noch erlebt hätte! Wenn das nur nicht noch ein ganz großes Unglück gibt!«
Wichmann spürte die Schauer, die ihm die Haut zusammenzogen.
»Und wer wird noch alles in die Sache verwickelt sein? Wer wird dieser Person Geld geliehen haben?«
Der Zuhörer spürte die Augen der Geheimrätin und dachte an den Abend, an dem er um Ermäßigung der Miete und häufigere Mahlzeiten im Hause gebeten hatte. Er hatte damals von einem Schulden machenden Verwandten erzählt.
»Um diese Frage brauchen wir uns ja glücklicherweise nicht den Kopf zu zerbrechen, gnädige Frau.«
»Glücklicherweise, ja! Zu dem Studentenfonds habe ich fünfzig Mark gegeben, obwohl mir’s in dem Augenblick nicht leicht fiel – Frau Grevenhagen war mit ein paar Damen zum Tee bei mir – Sie erinnern sich, ich erzählte davon – wenn sie die Stiftung veruntreut hat, das wäre unerhört!«
»Es braucht nicht jede infame Anspielung der Wahrheit zu entsprechen, Frau Geheimrat! Ich bin überzeugt, daß die Angelegenheiten der Stiftung in Ordnung sind.«
»Na wissen Sie – wenn jemand mit dem Betrügen schon anfängt … Nein – nein – aber nehmen Sie doch mehr Süßspeise, Herr Assessor. Ein junger Mann wie Sie muß essen!«
Wichmann war nun doch der Appetit vergangen.
Er verabschiedete sich bald, um den weiteren Feststellungen, wie entsetzlich, unerhört und furchtbar das alles sei, zu entgehen. Er nahm gegen seine Gewohnheit ein abendliches Bad, um sich selbst zu beruhigen, und schlüpfte unter die Daunen. Er war nicht mehr an das Fenster getreten und hatte nicht hinausgesehen. In der Luft um ihn lag eine schwüle Bedrohung. Der treuherzige Kasper mit seinem Zorn, die witzelnden Kollegen, Marthas Bericht und die erregte Geheimrätin waren wie fahles Wetterleuchten vor aufziehenden Wolken. Wichmanns Gedanken vermieden peinlich den Punkt, an dem er sich hätte eingestehen müssen, daß der Ministerialdirigent Grevenhagen unter den Gläubigern seiner Frau auch den Assessor Wichmann finden konnte.
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