Das Vorzimmer, in das Dr. Wichmann sich begab, war hell möbliert. Am Fenster stand ein Strauß bunter Zinnien in einer weißen Porzellanvase. Vor der Sekretärin Grevenhagens, Fräulein du Prel, machte Oskar Wichmann unwillkürlich eine tiefere Verbeugung, als er beabsichtigt hatte. Durch das Dunkel ihres schlichten Kleides und des glatt gescheitelten Haares schied sie sich auffallend von der lichten Umgebung. Der Unbeschäftigte sah ihren Händen zu, die über die Tasten der Schreibmaschine gingen. Das Klappern der Tasten unter dem leichten Anschlag und das Ticken der Wanduhr waren die einzigen Geräusche. Durch das halbgeöffnete Fenster kamen von draußen nur Licht und Stille; der große Platz vor dem amtlichen Gebäude lag leer.
Die weißen Blätter raschelten kaum beim Auswechseln. Der Uhrzeiger rückte auf fünf Minuten nach neun.
Am Kleiderständer hing nichts als der Hut des Regierungsassessors. Da Wichmann keine Aktenmappe bei sich trug, fiel es ihm schwer, seine Hände zweckmäßig zu gruppieren. Das schweigende Warten entnervte auch in kurzer Zeit.
Der Assessor versuchte, seine Gedanken auf ein Ziel zu richten. Boschhofer … Ministerialrat Grevenhagen war »Zu Boschhofer gerufen« worden. Warum nicht zu Ministerialdirigent oder Ministerialdirektor oder Staatssekretär Boschhofer? Wenn der Mann dieses volltönenden Namens befugt war, Grevenhagen »rufen zu lassen«, so stand er höher im Rang als der Ministerialrat. Warum hatte der Amtsgehilfe, dem die Titel »Ministerialrat« und »Assessor Dr.« so flink von den Lippen schlüpften, den Titel des anderen nicht genannt? Einfache Leute machten sichere und begründete Unterscheidungen. Was war das für ein Mann, »Boschhofer?« Wirkte er sogar bei einem Amtsgehilfen durch seinen Namen schlechthin? Oder aberkannte ihm der Bote einen Rang, den er nicht berechtigt fand?
Die Zinnien am Fenster waren mit viel Geschmack in einer Fülle der zarten Abschattierungen von dunklem Rot und Blau geordnet. Fräulein du Prel arbeitete, ohne aufzusehen. Wichmann hatte das Gefühl, daß ihre flinken, ringlosen Finger nie eine falsche Taste trafen. Sie hatte schmale Hände und ein zartes ernstes Gesicht. Trotz oder gerade durch Schlichtheit wirkte ihr Äußeres elegant.
War der Arbeitseifer in dem hohen Ministerium so groß, daß Besprechungen zwischen Ministerialräten und Ministerialdirektoren üblicherweise morgens um neun Uhr angesetzt wurden? Kaum. Grevenhagen selbst war überrascht worden; er hatte Wichmann für neun Uhr bestellt, in der Annahme, anwesend zu sein. Ein neuer und wichtiger Vorgang mußte die Besprechung veranlaßt haben.
Das Telefon schnarrte.
Fräulein du Prel nahm den Hörer auf und meldete sich, leise, zurückhaltend, aber nicht ohne Klang in der Stimme. Die Stimme paßte zu der Erscheinung dieses Mädchens. Wie alt mochte die Sekretärin sein? Zwanzig Jahre?
»Jawohl, Herr Ministerialrat.«
Fräulein du Prel verließ die Maschine, holte ein Aktenstück aus den wohlgeordneten Fächern des Aktenschrankes und eilte hinaus.
Bei der Besprechung der hohen Herren wurde offenbar noch Material gebraucht.
Wichmann legte ein Bein über das andere und stützte den Arm auf den runden Tisch. Die zurückkehrende Sekretärin stockte, sah sich um und brachte dem Wartenden dann den gehefteten Geschäftsverteilungsplan des Ministeriums.
Wichmann begann die Geschäftsordnung der Abteilung, in die er berufen war, zu studieren. Abteilung III, Leiter: Ministerialdirektor Josef Boschhofer. Referat 1: Ministerialrat Dr. jur. Grevenhagen; ihm untergeordnet: Regierungsrat Dr. Korts. Referat 2: Ministerialrat Dr. Nischan; ihm unterstellt: Oberregierungsrat Dr. Meier-Schulze, Regierungsräte Dr. Borowski, Dr. Nathan, Dr. Loeb, Regierungsassessor Dr. Casparius. Ach noch ein Assessor! War es in diesem Ministerium Gewohnheit, Assessoren einzuberufen? Wichmann fühlte sich in seinem Selbstbewußtsein beeinträchtigt. Es gefiel ihm jedoch, daß er dem »Referat 1« zugeteilt werden sollte, in dem die Mitarbeiter nicht zahlreich waren. Drüben im Referat 2 schienen sie in größerer Menge und daher vermutlich geringerem Werte vorhanden. Die Namen brauchte man sich vorläufig nicht zu merken.
Im Korridor ging ein dienstlich schneller Schritt vorbei. Wichmann glaubte zu hören, daß er vor der mit keinem Namen bezeichneten Nebentür endete. Ein Geräusch wie das Umdrehen eines Schlüssels entstand, und ein leises Auf- und Zugehen in den Angeln war zu vernehmen.
Wieder herrschte Stille, aber Fräulein du Prel hatte den Kopf etwas gehoben.
Ein nicht sichtbarer Apparat rasselte leise. Die Sekretärin wurde zum Chef gerufen.
Ministerialrat Grevenhagen ließ bitten.
Oskar Wichmann hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, daß sein Herz einen schnelleren Gang einschaltete. Er schloß die gepolsterte Doppeltür hinter sich, seine Füße fühlten durch die Schuhsohlen einen weichen Teppich. Er verbeugte sich und nahm auf einem einfachen Stuhl, dem Diplomatenschreibtisch gegenüber, Platz. Seine Hände waren noch immer unnütz.
Ministerialrat Grevenhagen fragte sehr sachlich und kühl, und der Kandidat empfand den Ehrgeiz, ebenso farblos und korrekt zu antworten.
Nein, er hatte sich für diese spezielle Materie noch nie interessiert, hoffte aber, sich bald einzuarbeiten.
Er würde nicht versäumen, sich bei Ministerialdirektor Boschhofer zur Vorstellung anzumelden.
Mit Regierungsrat Korts und Inspektor Baier war er noch nicht bekannt geworden.
Das Telefon vermittelte Fräulein du Prel den Auftrag, die beiden Mitarbeiter des Referats in einigen Minuten zu rufen. Ministerialrat Grevenhagen hatte eine Mappe mit schwerem Deckel aufgeschlagen und leistete unterdessen Unterschriften. Die Feder ging glatt über das Papier. Der Name war in steilen Buchstaben ausgeführt und ohne Irrtum zu lesen, auch als er an diesem Morgen zum zwölften und, wenn man einige Jahre rechnete, vielleicht zum mehrtausendsten Male geschrieben wurde. Ein einziger versteckter Schnörkel des beginnenden »G« gab Rätsel auf.
Die Nägel der schreibenden Hand waren kurz, mit einer nur andeutenden Spitze geschnitten und erinnerten in ihrer peinlichen Sauberkeit an sandgescheuerte Friesenhäuser. Die Hand war schlank und weißhäutig, etwas welker, als dem Alter dieses Mannes angepaßt sein mochte, und doch in Übereinstimmung mit dem hellgrauen Haar, das der Scheitel in geradliniger Ordnung teilte. Ministerialrat Grevenhagen gehörte zu den Menschen, die auch im Sitzen schlank und groß wirken. Der Siegelring zeigte ein eigentümliches Wappen.
Als das letzte Blatt unterzeichnet und die Mappe an den zum Abtragen bestimmten Platz gelegt worden war, hob sich der schmale Kopf hinter dem Schreibtisch, und Oskar Wichmann wurde von dem Blick, der ihn traf, so gefesselt, daß ihn nur das anerzogene Verhalten in bestimmten gesellschaftlichen Lagen davor behütete, den Vorgesetzten länger als eine Sekunde anzustarren. Aber auch als er sich zwang, die Lider hin und wieder zu senken und sein Gegenüber nur im ganzen in den Gesichtskreis zu nehmen, hatte er in Wahrheit nichts als den Blick vor sich, der ihn gemustert hatte. Grevenhagens Augen waren von einem hellen Blau, das sich mit dem nördlichen Himmel am Morgen vergleichen ließ; sie schienen in die Tiefe zu fassen und wieder über alles hinwegzugleiten wie die Augen der Seeleute oder der Hirten, in die das Wesen einer weiten Landschaft eingegangen ist.
Auch der Ministerialrat mochte in der kurzen Spanne, in der sich sein Blick mit dem Oskar Wichmanns fester getroffen hatte, einen ersten Eindruck von dem Charakter des ihm noch Unbekannten gewonnen haben. Seine linke Hand holte eine dunkelblaue Mappe, die er auf dem großen Schreibtisch etwas abseits geschoben hatte, wieder herbei und stellte den Deckel auf, während die rechte, noch nicht ganz schlüssig, ein paar zusammengeheftete, mit Schreibmaschine beschriebene Blätter in der Mappe hin- und herzog.
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