Diane holte aus ihrem Gedächtnis die beiden noch offenen Orakelsprüche und trug sie Diana vor: „Ich werde zum ersten Mal auch eine Basisquelle ersetzen. Und dann werde ich auch mit Traditionen brechen und dabei fünf Brücken bauen, von denen eine vergänglich sein wird.
Doch alle diese Brücken werden zu einem weniger bekannten Volk führen.“
Vollkommen aufgeregt meinte Diana jetzt: „Und wenn ich die vierte Brücke bin und vielleicht Mama die Fünfte?“
Wolfgangs Stirn zog sich in Falten. „Das wäre möglich, aber Mama ist doch …“ Plötzlich riss er die Augen auf, umarmte spontan seine Tochter und rief: „Die vergängliche Brücke! Das ist Mama! Diana, du hast es gefunden!“
Die Atlanterin nickte ebenfalls euphorisch. „Damit könntet ihr recht haben. Wir werden das im Clan besprechen, aber es sieht ganz so aus, als ob ihr es gefunden habt. Sie werden sich mit uns freuen, dass wir wieder einen Orakelpunkt erkannt haben. Nur die Sache mit dem Ersetzen der Basisquelle hat sich offenbar noch nicht erfüllt.“
„Dann vielleicht später“, meinte nun Diana überzeugt. Danach fiel ihr wieder das Gespräch von vorhin ein und sie fragte wiederholt. „Wann wollen wir fliegen?“
„Wann ihr wollt, sobald es dunkel geworden ist.“
„Was, wirklich?“ Diana konnte es gar nicht fassen.
„Dann solltest du dir alles, was dir wichtig ist, zusammen suchen“, erklärte Wolfgang seiner Tochter.
„Aber geht denn das alles in das UFO rein?“
„Du brauchst nur die Erinnerungsstücke, von denen du dich nicht trennen willst. Fotoalben, deine beiden Kuscheltiere und vielleicht auch ein paar Bücher, sonst nichts.“
„Nichts weiter? Keine Sachen? Soll ich denn dort nackt herumlaufen?“
„Das bekommst du in Posid alles, wie du es brauchst. Oder willst du mit deinen modischen Sachen dort herumlaufen, so dass man schon von weitem sieht, dass du kein Atlanter bist?“, fragte sie jetzt Diane.
„Na, das nun auch gerade nicht. Aber dann brauch ich ja gar nicht so viel.“
„Stimmt!“, bestätigte ihr Vater und schon war sie in ihrem Zimmer verschwunden. Wolfgang nahm jetzt Diane an die Hand und verließ die Wohnung, ging mit ihr durch den Keller und verließ das Haus auf der Hofseite. Nun führte er sie an die Blumenrabatte, wo an einer Stelle zwei Rosen nebeneinander standen. „Es ist ein Rote und eine Weiße. Jetzt im März blühen sie aber noch nicht.“
Wortlos dreht sich Diane zu ihm und umarmte ihn ganz heftig. Tränen liefen ihr übers Gesicht. „Du hast die gleichen Rosen hier noch einmal gehabt?“
Wortlos nickte Wolfgang. Doch dann sagte er: „Sie standen anfangs genau so in meinem Schlafzimmer, wie bei euch in meinem Zimmer. Als aber Marina zu mir zog, hatte ich sie dann hier her gepflanzt. Wie hätte ich ihr diese Rosen erklären sollen?“
Sie streichelte ihn ganz zärtlich. „Du hast mich die ganze Zeit nicht vergessen.“ Und wieder drückte sie ihn ganz fest an sich. „Ich dich auch nicht. Ich habe deine Rosen in deinem Zimmer die ganze Zeit gepflegt und immer gehofft, dass du zurückkommst. Nun ist der Tag da und ich kann es immer noch nicht begreifen.“ Noch einmal schlossen sich ihre Arme ganz fest um seinen Körper und sie weinte vor Glück.
Nach einer Weile fragte Wolfgang: „Wollen wir die Rosen hier lassen?“
Wieder liefen ihr Tränen übers Gesicht. All ihre Befürchtungen, Wolfgang könne sie mit der Zeit vergessen, kamen jetzt wieder in ihr hoch. Sie war überglücklich, dass er sie die ganze Zeit genau so vermisst hat, wie sie ihn. Deshalb antwortete sie: „Ja. Sollen sie hier von unserer Liebe künden und all denen Hoffnung geben, die auch auf ihr Glück lange warten müssen.“
Auf dem Rückweg in die Wohnung blieb Wolfgang im Keller plötzlich stehen. Ihm war sein Traum eingefallen, den er am zweiten Wochenende in Posid geträumt hatte. Er war im Traum auf der Tigerwiese in Posid mit Diane, zwei jungen Männern und einem jugendlichen Mädchen. „Diane!“, rief er heftig aus. „Erinnerst du dich an meinen Traum, den ich damals …“
„Ich lese ihn in deinen Gedanken. Ja, du hattest eine Zukunftsvision. Es waren Hermann, Herbert und Diana, die mit auf der Wiese waren. Welch wundersame Dinge es doch zwischen Himmel und Erde gibt.“
Eng umschlungen kamen sie wieder in der Wohnung an. Diana hatte sie schon vermisst. „Wo wart ihr denn?“
„Ich habe Diane nur unseren Hof gezeigt.“
„Ach so.“ Diana winkte ab. „Da gibt’s doch nichts Besonderes zu sehen.“
„Es wird langsam dunkel. Damit öffnet sich die innere Erde für euch“, erinnerte jetzt Diane. Zu Wolfgang gewandt sagte sie: „Es war der Wunsch von Marina, dass ich euch mitnehme.“
Er nickte. „Sie hat uns beiden viel Glück gewünscht. Was hatte ich doch für eine wundervolle Frau?“, sagte er mit Tränen in den Augen. Dann weinte er noch einmal bitterlich. Seine Tochter und auch Diane setzten sich jetzt zu ihm und versuchten ihn zu trösten.
Als er sich wieder beruhigt hatte, suchten sie ihre persönlichen Sachen zusammen. Wolfgang hängte seine Sonne von Atlantis wieder um und sie verließen zum letzten Mal ihre Wohnung. Da ihre freundlichen Nachbarn nicht zu Hause waren, steckte Wolfgang in den Briefkasten ein Kuvert mit all ihren Schlüsseln, Papieren und einem Briefbogen, auf dem stand:
Leipzig am 19. April 2028
Liebe Nachbarn!
Wir danken euch für diese angenehme Nachbarschaft, denn wir werden diesen Ort jetzt für immer verlassen. Unser Auto und alles was sich in unserer Wohnung befindet, schenken wir euch. Soviel wir wissen, sucht doch euer Sohn mit seiner Freundin eine Wohnung. Er kann alles haben. Wir wollen nichts dafür! Wir kommen nie wieder!!!
Alles Gute für euch.
Diana und Wolfgang Nebsi.
Danach meinte Diane: „Und dir, Diana, soll ich die Mutter ersetzen, hat mir deine Mama gesagt. Das werde ich sicher nie schaffen, aber ich versuche es, so gut ich kann.“
Wolfgang starrte Diane plötzlich an. Ihm lief es eiskalt den Rücken herunter. „Ersetzen! Du willst Diana die Mutter ersetzen?“
„Ja“, antwortete Diane etwas verwirrt. Noch bevor sie es in seinen Gedanken lesen konnte, platzte es aus ihm heraus. „Eine Mutter ist doch die Quelle oder die Basis eines Lebens. Und du wirst sie ersetzen. Das ist der letzte Orakelspruch! So etwas hat es sicher unter den Atlantern noch nie gegeben.“
Überrascht sah sie ihn an. „Du hast recht! Das ist es! Damit hat sich das gesamte Orakel erfüllt.“ Glücklich umarmte sie Wolfgang. Als sie Diana etwas unglücklich abseits stehen sah, nahm Diane jetzt zusätzlich auch ihre neue Tochter in die Arme. Ihr wurde in dem Moment bewusst, dass sie jetzt auch eine kleine Familie hatte und dass das Orakel all diese Dinge schon zu ihrer Geburt kannte; sogar Marinas vorzeitigen Tod. Das verstand nicht einmal sie selbst, obwohl sie als Atlanterin über viele Dinge Bescheid wusste. Noch immer umarmte sie die beiden.
Minuten später gingen sie zusammen zu Dianes Lande- und Startplatz in dem Industriegelände, stiegen in den Transporter und flogen einer neuen Zukunft entgegen. Wolfgang sah wehmütig nach unten, als sein Leipzig unter ihm verschwand. Es war 54 Jahre seine Heimat gewesen und nun sollte sich alles ändern. Im Grunde genommen hielt ihn hier nichts mehr, doch diesmal war es ein Abschied für immer. Und so kam in ihm doch so manche Erinnerung wieder hoch. Hatte er doch hier eine glückliche Kindheit verbracht, bis sich dann seine Eltern vor 40 Jahren scheiden lassen hatten. Ja, hier war er aufgewachsen. Die meisten seiner Bekannten wohnten noch hier. Allerdings wirkliche Freunde hatte er hier nie gehabt. Deshalb fiel ihm auch der Abschied nicht so schwer. Seine Mutter war hier vor rund 25 Jahren gestorben und sein Vater fünf Jahre später tödlich verunglückt. All diese Dinge gingen ihm jetzt durch den Kopf.
Читать дальше