Stille – die beiden Zuhörer verharren in Schockstarre, bis die alte Dame erneut das Wort ergreift – sehr still und traurig klingt das nun, was sie jetzt zu sagen hat: „Da hat der Herrgott aber noch ein Einsehen mit dem Paulus gehabt, dass er diese Schmach nicht mehr selbst erleben musste. Die eigene Tochter! In einer Familie, in der Gottesfurcht und Gottesliebe zuhause gewesen sind – solch’ ein Verhängnis! Unglaublich!“ Adelaines Seufzer durchbricht die sekundenlange Stille, die nach Ethels Wehklage eingetreten war, bis sie erleichtert feststellt: „Wie gut, dass ich heute leben darf!“
Der Großonkel zuckt augenblicklich seine Schultern, während sich seine Nasenflügel zum tiefen Luftholen rüsten und dabei noch verschrumpelter aussehen als im gelockerten Zustand sowieso schon. „Mich deucht, hier duftet es nach Schweinebraten! Sogar nach einem besonders saftigen in kross gebratener Ummantelung! Adelaine, würdest du mir bitte aufhelfen?“
Und die Folgsame springt schnurstracks aus ihrem Sessel auf, um ihre Hand um das Armgelenk des Hungerleiders zu legen und diesen wahrlich nicht ausgehungert wirkenden Mann zum Genuss versprechenden Mahl zu führen – und jetzt heißt es: Schritt für Schritt dem dampfenden Schwein entgegen.
„Hier siehst du, Adelaine, das sind die Kinder vom Franz; ein in jeder Hinsicht fleißiger Mann – als da sind zehn Stück an der Zahl! Zwei Frauen waren an der Hervorbringung nicht unmaßgeblich beteiligt. Das hier ist die Magdalene und die zweite Frau hier hieß Margarita.“ Er zeigt dabei auf zwei rechteckige kleine schwarz umrandete Rechtecke. „Da stehen nun wie bei all den vielen anderen nur zwei Zahlen, manchmal ist aber nur ein Name angegeben, in zackigerer, weich, ästhetischer oder auch linkischer Weise verewigt, von unterschiedlichen Schreibern verfasst“, resümiert die aufgeweckte junge Dame, die das philosophische Nachsinnen wohl mit in die Wiege gelegt bekommen haben muss.
„Jede der unscheinbar wirkenden Figuren steht für ein Leben, wie lang oder kurz, wie sinnvoll oder auch unbedeutend es auch gewesen sein mag. Aber immerhin ist das Kästchen, in dem ein Kind, das mit wenigen Tagen, Wochen oder Monaten die Erde schon wieder verlassen musste, genauso groß wie die Tintenbilder, in denen ein langes Leben festgehalten wird. Mein Gott, besteht ein Menschenleben denn nur aus zwei waagerechten und zwei senkrechten Linien, die mal mit Kantel, mal mit freier Hand aufs Papier gebracht werden? Guck’ mal hier, da macht die schwarze Linie einen klitzekleinen Schwenker nach oben!“
„Ja, warum denn nicht?“, unterbricht der Großonkel das junge Mädchen. „Vielleicht war einem Vorfahren beim Schreiben, so auch wie bei mir eben gerade, der köstliche Geruch von Schweinebraten in die Nase geweht oder der Betreffende hatte zu tief ins Weinglas geguckt! Wer weiß das alles schon? Denen war auch nichts Menschliches fremd!“
Die alte Dame muss lächeln. Der kurzen Anmerkung, an die Adresse des Schwagers gerichtet: „Ach, ihr Männer immer … mit euren oft so unpassenden Kommentaren!“, folgt ein verständnisvoller Blick auf ihre Enkelin, die im gleichen Moment ihre Großmutter ins Visier nimmt und die Ohren dabei besonders spitzt, als diese sie in fürsorglichem Ton ins Gebet nimmt. „Mein liebes Kind, beachte bitte, was ich dir jetzt zu sagen habe! Ich spürte schon wenige Jahre, nachdem du unsere Erdenbühne betreten hattest, dass du mit einer besonderen Empfindlichkeit ausgestattet worden bist. So edel dieserart Veranlagung auch sein mag, so führt sie doch andererseits allzu leicht zur Melancholie. Ich weiß um diese Trübsinnigkeiten und ich habe nach besten Kräften versucht, diese Unglückshäher zu vertreiben. Sieh’ mal, diesen Blumenzauber hier …, dieser betörende Duft …, diese filigranen Blütenblätter …, sieh mal, diese hier, rosarot getupft sind sie, sind sie nicht himmlisch?“ Großmutter berührt voller Inbrunst ein einziges Blättchen, das sich in ihre Handfläche schmiegt. „Erlabe dich an der wunderbaren Natur, umgib dich mit geliebten Menschen. Und wenn du dann noch einen guten Draht nach oben pflegst, dann wird der Herrgott dir seine Aufgabe für dich zeigen, und zwar diejenige, die er auf Erden für dich vorgesehen hat, das dürfte dann der beste Schutz gegen das Eindringen der dich auflauernden Schwermut sein.“
„Ja, ja meine liebe Kleine, pass’ du mal tüchtig auf, dass du nicht eines Tages mal in einer Anstalt landest so wie die Maria! Die ist sogar …!“
„Schwager!“ Selten hat Adelaine ihre Großmutter bisher so entrüstet aufschreien gehört. „Gib endlich Ruhe! Hast du denn kein Herz im Leibe?“
„Liebe Schwägerin! Sei nicht so schlimm erbost! Ein junger Mensch muss gewarnt werden, denn du weißt es selbst, was die ganze Familie mitgemacht hat, als Maria in die Themse gegangen ist!“
„Nein, so nicht! Nein, so nicht! Du verängstigt die Kleine ja bis aufs Blut! Wo bleibt deine Einfühlungsgabe, oh du mein Gott?“
Adelaine schweigt und zeigt Verwirrung. Sie versteht weder Großmutter noch Großonkel. Er malt den Teufel an die Wand, einen ganz großen, aber Großmutter mischt mit einem Teufelchen, einem ziemlich kleinen, einem schwermütigen, ebenfalls mit, wenn sie meine Gefühlslage dramatisiert. Adelaine schweigt noch immer, aber die Frage wie: Bin ich schwermütig, wenn ich übers Leben nachsinne?, schwirrt in ihrem Kopf herum und sie nimmt sich vor, beim nächsten Mal, wenn sie mit Grandma alleine ist, ihre geheimsten Ängste zur Sprache zu bringen. Großonkels Unbesonnenheit kann sie dabei überhaupt nicht gebrauchen, nein, wirklich nicht, nie und nimmer!
„Adelaine, sieh mal hier!“ Der runzelige Finger, der mit dem Tatterich, tanzt zwischen zwei Tinten-Rechtecken hin und her. „Hier wird’s für uns eigentlich erst interessant! Ab hier spaltet sich der Familienzweig in eine englische und in eine deutsche Linie. – Großonkel, meinst du diesen Franz hier oder etwa diesen Menschen hier, mal ausnahmsweise einen Johann?“
Adelaine beobachtet, wie sein Finger zwischen beiden Namen hin- und herpendelt. „Du zeigst mal mehr hier, mal mehr dort hin. Dein Finger wackelt hin und her.“
Der alte Herr kann es schwerlich ertragen, wenn ihn ein Mensch auf irgendeine seiner Unzulänglichkeiten hinweist. Energisch greift er nach dem zierlichen Obstmesserchen, das Mrs. Smith den dreien samt einem Korb glänzender, rotbackiger Äpfel auf den Tisch gestellt hatte. Und genauso energisch stupst er mit der Messerklinge, der schmaleren goldbesetzten Seite auf den Namen: Johann. „Warte mal ab, junges Gör, wenn du mal in solch’ eine Lage kommen solltest, dass du deine Gliedmaßen nicht mehr unter vollständiger Beherrschung hast!“
Großmutter und Enkelin werfen sich vielsagende Blicke zu, ehe Adelaine ausruft: „Oh, seht mal hier …!“ Dabei zeigt sie auf die beiden Herren Franz und Johann. „Das ist aber seltsam. Betrachtet euch mal die Zahlen genauer! Bei dem einen steht 1697 als Todesdatum, bei dem anderen als Geburtsdatum.“
„Ja, du hast recht, der Vater Franz ist vier Wochen vor der Geburt seines Sohnes gestorben!“
„Mein Gott, wie traurig!“ Adelaine macht ein bekümmertes Gesicht, als der alte Herr ihr unsanft über den Mund fährt.
„So war das eben! Geburt und Tod waren eng miteinander verzahnt. Ihr seid heute eben viel zu sehr verweichlicht! Schreib’ es dir hinter die Ohren: Das Leben ist wahrlich kein Zuckerschlecken!“
Großmutters Blick zur Enkelin spricht Bände; Bände, die nur ihr sehr vertraute Menschen entziffern können. Sie sagt keinen Ton; ihre Erregung zeigt sich lediglich darin, dass sie ihren Apfel sehr fahrig behandelt. Anstatt mit liebevollen Augen in gleichmäßige Stücke geteilt zu werden, spürt der rotglänzende Jonathan kreuzweise liederliche Einschnitte in seinem Fleisch, wobei zornige Augen ihm entgegen funkeln.
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