„Findest du den Umschlag nicht, mein Kind? Sieh mal bitte in dem senkrechten Fach, dem zweiten von rechts nach! Vielleicht hast du da mehr Glück!“
Großmutters Worte im Ohr gleiten Adelaines Finger in die oberen Gefilde der Schatztruhe, treffender gesagt, in dieses, ungeahnte Schätze offenbarendes Schreib-Mobiliar, das jedem auf Stöberjagd gehenden Eiferer faszinieren muss. Adelaines Kopf beginnt auf Hochtouren zu arbeiten. Gab es da nicht dereinst auch das Verwirrspiel um König Georges, III, der in der Zeit der ‚regency period‘ gelebt hat? In dieser Epoche, in der das gute Stück aus Mahagoniholz entstanden war? Ob hier vielleicht noch Briefe zu finden sind, in denen meine Vorfahren, vornehmlich weiblichen Geschlechts, ihre Herzensergüsse über diese Tragödie um diesen englischen Herrscher zum Besten gegeben haben? Adelaines Hirn arbeitet sichtlich auf Hochtouren! Es läuft nämlich puterrot an. Oh da, ja, auf einem Kuvert, der schon wie von Mäusen zerfressen scheint, mit verblichenen gestochenen gemalten Buchstaben, oh, hier, Moment mal, hier steht es vorn doch drauf: von Mary an Elisabeth, Datum vom 6.7.1821. Wer auch immer diese beiden Damen sind, ich werde diesen Brief später einmal mit Großmutter lesen; denn Großonkel würde bei dieser Angelegenheit nur stören, befindet sie insgeheim, denn er liebt solchen Weiberkram überhaupt nicht.
„Adelaine, hast du den Brief von Paul denn gefunden?“ Großmutter wundert sich über der Enkelin Geschäftigkeit und schüttelt ihren grauen Knoten-Kopf, während der Großonkel bedächtig, wie er es über alle Maßen liebt, sich Tabak, den er zuvor aus der bunten Blechdose genommen hat, in sein Pfeifchen stopft. Jetzt bringt Großonkel nichts mehr so schnell aus der Ruhe, das weiß das junge Mädchen, denn genauso wie Großmutter ihre Glaubensrituale schätzt, so scheint Großonkel für das nächste halbe Stündchen in einen heiligen Raum der Ruhe einzutreten.
„Juchhu, da bist du ja endlich, du Ersehnter! Du wolltest mich wohl ein wenig foppen und hattest dich in die äußerste Ecke verkrochen!“ Adelaine greift nach dem Kuvert und trägt es, mit sich und der Welt zufrieden, zum Tisch hin. „Grandma, diese Schrift, sieh’ mal! Ich hab’ mehr geraten als dass ich es entziffern konnte. Das hier ist doch ein P, und dahinter, so denke ich mir mal, sind das a, u und das l. Grandma, würdest du uns bitte den Brief vorlesen? Du kennst die Schrift sicher besser!“ Adelaine hatte ihn vorsichtig entfaltet und hält ihn der Großmutter unter die Nase!
„Kind, reiche mir bitte mein Brillenglas!“ Genau dann, wenn Großmutter ihr Monokel mit ihrem Augenlidmuskel festklemmt, dann verzieht sie jedes Mal ihren Mundwinkel ein wenig nach oben, so als ob sie einseitig lächele. Wie ein gelehriger Herr Professor wirkt sie in solchen Momenten, ein Gelehrter in Kleidern, ach wie komisch! Einer, der, auch wenn er Ernstes vorträgt, im Gepäck oft auch Bruder Leichtfuß mitträgt. Adelaine muss lächeln, gedankenverloren wie sie es häufig ist.
„Also, ich beginne, meine liebe junge Dame und mein verehrter betagter Herr Schwager!“ Sie räuspert sich einmal. „Ich glaube, dass mir noch ein Krümelchen Brot im Hals stecken geblieben ist.“ Sie räuspert sich zum zweiten Male. Dieser Räusperer hallt noch lautstarker durch den Raum als sein Vorgänger und scheint dem Quälgeist im Hals endgültig den Garaus machen zu wollen. „Ich vermute, dass sich ein Teil des Quittengehäuses in meinem Schlund verfangen hält!“ Dame Ethel holt einmal tief Luft, lässt ihre Hand sich vorne fest um den Hals krallen und bittet, kläglich nach Luft schnappend: „Klopft bitte … hierhin!“, und zeigt dabei auf ihren Rücken.
„Erst einen Schluck Tee nehmen! Ethel! Dann rutschen die Kernlein auch dorthin, wo sie hingehören!“ Nachdem der alte Herr über Jahre gelernt hat, seinen Tatterich als einen freundschaftlichen Lehrmeister des sich näher und näher heranschleichenden Gevatter Tods zu akzeptieren, so stört es ihn auch wenig, dass nicht alle Tröpfchen dorthin fließen, wo sie eigentlich hingehören, nämlich aus der Wedgwood-Tasse, die Mrs. Smith in ihrer flinken Weise bereitgestellt hat, in seinen Schlund. Großmutter, mit erhobenen Händen die befreienden Rückenschläge ihrer Enkelin erwartend, kehrt sich jetzt reichlich wenig um die braunen Spritzer auf der Spitzendecke, zu sehr ersehnt sie aus dem Zusammenspiel der beiden Akteure am Tisch, dass sie den Störenfried in ihrem Hals endlich los wird. Und – oh, Wunder – Adelaines Bemühungen scheinen doch von Erfolg gekrönt zu werden. „Fort ist er, fort, tatsächlich fort, dieser Eindringling!“ Großmutter klatscht in die Hände, vernehmlich nach oben gewandt spricht sie: „Lieber Herrgott! Danke! Danke! Wie schön ist das Leben, wenn ein Mensch wieder zum Leben notwendige Luft schnuppern darf! Oder …“, die alte Dame stützt ihren Kopf auf ihre Finger, „… liegt das Luftwegbleiben sogar an einem schrecklichen Gedanken, der mich gerade überfallen hat, als ich an Paul dachte, an den Freund unseres Vorfahren? Aber jetzt lese ich erst einmal den Brief vor, diesmal, so hoffe ich wenigstens, ohne diesen Quälgeist! – Lieber Freund! Jetzt möchte ich aber nicht länger verweilen und Dir auf Deinen Brief antworten. Mein aufrichtiges Mitgefühl bringe ich Dir hiermit entgegen. Du hast Dich mit zu viel Unbill herumzuschlagen, wie allerorts Kunde gegeben wird. Dass Du mit tiefster Trauer erleben musst, wie Deine zweimalige, mit unzähligen Mühen erstellte Kirchenordnung den Wirren des Landes zum Opfer gefallen ist, das rührt mich zutiefst. Gerade kommen mir die Worte vom Luther in den Sinn: ‚Nehmen Sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib: lass fahren dahin, sie habens kein Gewinn, das Reich muss uns doch bleiben!‘ Jesus Christus wird für uns und den rechten Glauben streiten. Daran lasst uns mit allen unseren Kräften festhalten! Es tut mir aufrichtig Leid, dass Du nur halb so viel Lohn erhältst, wie es Dir versprochen worden war. Du musst so viele Mäuler stopfen und außerdem dafür Sorge tragen, dass Deinen Söhnen eine gute Gelehrsamkeit zu Teil wird und Deine Töchter eine stattliche Mitgift aufweisen können. Wie gekränkt musst Du Dich gefühlt haben, dass Du die Geringschätzung eines Ochsenknechtes ertragen musstest! In Rostock läuft alles ohne besondere Schwierigkeiten. Meinen Studenten versuche ich den lieben Reformatoren Flacius nahezubringen, um bei ihnen die wahre lutherische Lehre zu stärken. Von meinem Eheweib und den sechs Kindern ist nichts Schändliches zu berichten. Nur meine Margarethe, jetzt in dem schwierigen Alter des Übergangs vom Mädchen zur Frau, erweist sich manches Mal als ziemlich störrisch. Sie ist kein so hübsches Mägdelein wie die andere Tochter, eher klein und von gedrungener Statur. In allen Dingen, die uns hier auf Erden nicht so sehr behagen, in allem Kampf lasst uns wie Luthern beten: ‚Ach, Gott, vom Himmel sieh darein und lass dich des erbarmen!‘ In freundschaftlicher Verbundenheit von Haus zu Haus verbleibe ich Dein Dir stets verbundener Paul.“
Stille! Der alte Herr und Adelaine, seine Großnichte, sitzen auf ihren vier Buchstaben angenagelt wie auf Kirchenbänken, andächtig, so aufmerksam, als ob sie des Herrn Pastors Auslegungen Silbe für Silbe inhalierten. Ihre Hände halten sie brav über dem Schoß verschränkt, als Lady Ethel sich als erste zu Wort meldet: „Ob es jetzt das Krümelchen Brot oder Teilchen vom Kerngehäuse der Quitten gewesen ist, das mir die Luft zum Atmen nahm, ist jetzt einerlei. Oder sollte es etwa doch die Schauergeschichte gewesen sein, die hier …“, und dabei zeigt sie, den Brief noch auf ihrem Schoß haltend, auf diese Seite ganz unten, auf der in Form einer Notiz, in einer anderen Schrift, mit Griffel gemalt, etwas angefügt worden steht. „Hier liest man schwarz auf weiß: ‚Die jüngste Tochter Paulus von Eitzens, namentlich Margarethe, wurde zusammen mit ihrem Gatten, dem Amtsschreiber, anno 1610, hingerichtet. Das Urteil erfolgte wegen Mitschuld an der Ermordung des Schwiegersohnes aus Apenrade. Dies fügt unter Berücksichtigung aller Nachforschungen in Gemeindeämtern der Ururenkel des Sohnes vom Superintendenten Paul von Eitzen, anno 1730, hinzu.‘ Unterschrieben ist mit Magnus von Eitzen, Domherr zu Lübeck.“
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