Er hatte ein Stück Papier in der Hand. Sein Gesicht verhieß nichts Gutes. „Wer hat das geschrieben?“ Ich wusste zuerst nicht, was er meinte. Doch dann kam mir plötzlich der Satz in den Sinn: „Lass mich nur machen!“ Hilfe. Was hatte Kurt da angerichtet? „Ich weiß nicht, worum es geht, und überhaupt, was steht denn auf dem Zettel?“
Wortlos reichte er ihn mir. Die Handschrift kannte ich. „Regina aus der 9b ist in Sie verliebt. Sie möchte sich mit Ihnen treffen.“ Ich schämte mich so sehr vor meinem Vater. Er schüttelte traurig den Kopf. Meine Mutter schimpfte heftig mit mir: „Wie stehen wir jetzt da, der Zettel wurde im Lehrerzimmer laut vorgelesen und es gab allgemeines Gelächter! Schämst du dich nicht?“
Natürlich schämte ich mich. Ich wurde immer kleiner auf meinem Stuhl. „Wer hat das denn vorgelesen?“
„Na, der, mit dem du dich treffen willst, dein Schwarm! Und er hat schallend gelacht.“
Derselbe, mein heißgeliebter Jürgen hat das vorgelesen? Oh, das war Verrat an meinen Gefühlen! Dem Kurt konnte ich nicht böse sein, aber ihm! Am liebsten wäre ich vor meinen Eltern im Erdboden versunken. Mein Klassenlehrer hatte es also auch mit gehört! Und alle anderen Lehrer ebenfalls.
Als ich wieder allein in meinem Zimmer war, schloss ich das offene Fenster, warf mich auf mein Bett und weinte bitterlich. Erstens, weil ich so verliebt war und mein Herz wehtat. Zweitens, weil der, welchem meine Gefühle galten, sich auch noch darüber lustig gemacht hatte. Taktlos und gemein fand ich das damals. Heute würde ich sagen – so etwas ist eines Lehrers nicht würdig.
War ich nun geheilt? Mitnichten! Am nächsten Freitag fand ein Turnwettbewerb in Hermsdorf statt, bei dem auch ich mit einer Kür im Bodenturnen teilnehmen sollte. Lange hatten wir uns darauf vorbereitet, schließlich wollten wir ein gutes Ergebnis erzielen. Mit dem Bus musste ich gleich nach dem Unterricht bis Stadtroda fahren, um dann in den Zug nach Hermsdorf einsteigen zu können. Im Bus aber saß auch „er“, und zwar ganz vorn. Ich verzog mich nach hinten, um ihn ungestört mustern zu können. Ich heftete meinen Blick fest auf seine breiten Schultern und seine blonden Haare. Mein Herz klopfte wie wild. Alles normale Denken war ausgeschaltet. So bemerkte ich auch nicht, wie der Bus am Bahnhof anhielt und schließlich weiterfuhr. Als ich den Blick von seinen Schultern zum Fenster lenkte, überkam mich Panik. Die Haltestelle war schon nicht mehr zu sehen. Ich rannte nach vorn, dabei musste ich mich an ihm vorbeischlängeln. Er grinste nur. Den Tränen nah flehte ich den Busfahrer an: „Bitte öffnen Sie die Tür noch mal. Es ist wichtig, ich verpasse sonst den Zug!“ Zuerst hob er bedauernd die Schultern, doch dann bremste er und ließ mich aussteigen. Hinter mir verwunderte Gesichter. Die Sporttasche fest unter den linken Arm gezwängt, spurtete ich los. Sein Grinsen ging mir nicht aus dem Kopf.
Außer Atem kam ich gerade noch rechtzeitig auf dem Bahnsteig an. „Wo bleibst du nur?“, riefen die anderen und zogen mich ins Abteil. Ich brachte kein Wort heraus und heulte los. Dieser gemeine Kerl hat mich ausgelacht!
Als ich an der Reihe war, schwor ich mir: Regina, jetzt zeige, was du kannst. Und danach ist Schluss mit der sinnlosen Schwärmerei. Mehr automatisch als elegant absolvierte ich mein Programm und bekam doch noch gute Noten dafür.
Zum endgültigen Loslassen aber verhalf mir unser Schuldirektor. Das kam so: Der von mir so heftig Angehimmelte kam häufig zu spät zum Unterricht. Eines Tages holte mich mein Lehrer mit folgenden Worten aus dem Unterricht: „Du willst doch Lehrerin werden, jetzt kannst du schon mal einen kleinen Schnupperkurs machen. Werfe auch mal bei der Gelegenheit einen Blick ins Klassenbuch.“ Damit steckte er mich in die Klasse, die Herr Prokop führte. Ich setzte mich an den Lehrertisch, und wenn ich es recht bedenke, waren das eigentlich die wirklich allerersten Minuten meiner Lehrerinnenlaufbahn.
Die Kinder kannten mich von den Pausen auf dem Schulhof. Sie waren ganz still und schauten mich erwartungsvoll an. Ich war sehr aufgeregt und ich hatte Angst, mich vor den Kindern zu blamieren. Meine Angst erwies sich als unbegründet.
Im Klassenbuch stand, dass jetzt Lesen geübt werden sollte. Ich schlug das Lesebuch auf, wählte eine Geschichte aus und bat sie, diese aufmerksam zu lesen. In der Zwischenzeit blätterte ich ein wenig im Klassenbuch und fand – oh Schande – eine ganze Reihe Rechtschreibfehler. Das konnte ich ihm nicht verzeihen, so wie ich auch bei Briefen meiner Verehrer immer zuerst die Fehler entdeckte und manchmal sogar mit Korrektur zurücksendete.
Mitten im Nacherzählen und im Fragen beantworten ging die Tür auf und „Er“ erschien. Er sagte nicht etwa Dankeschön zu mir, sondern schaute durch mich hindurch. Ich schien für ihn nicht zu existieren! War es ihm denn gar nicht peinlich, dass ihn eine Schülerin vertreten musste? Wohl doch nicht. Von dieser Minute an starb meine Schwärmerei. Die Kinder winkten mir zu, als ich den Raum verließ. Und wer kam mir entgegen? Unser Schuldirektor.
Ich wurde später wirklich Lehrerin, wenn auch mit Hindernissen. Oft musste ich an diese Begebenheit zurückdenken. Und dann war in meinem Kopf immer ein ‚Schade‘, denn ich sah ihn nie wieder und hätte ihm gern tüchtig den Kopf waschen. wollen.
Nichts im Leben muss man fürchten.
Man muss es nur verstehen.
(Marie Curie)
Meine erste Begegnung mit dem Tod erlebte ich mit der Beerdigung meiner geliebten Oma Milda. Ich war acht Jahre alt und ich fragte mich, was die Großmutter in diesem engen Kasten sollte, der dann auch noch vergraben wurde. Die andere Ungereimtheit bestand darin, dass die Klassenkameraden, die sonst nie von mir Notiz nahmen, mir mit einem ernsten Kopfnicken die Hand schüttelten. Was sollte das? Oma Milda hätte alles erklären können, das hatte sie immer getan. Doch sie kam nicht wieder. Lange, lange noch wartete ich vergebens auf sie.
Meine zweite, die schmerzlichste Begegnung mit dem Tod war, als ich unsere kleine Tochter Sabine am frühen Morgen tot im Bett fand. Ich brauchte viele Jahre, um darüber sprechen zu können und noch mehr Jahre, um die Trauer annehmen und den Tatsachen ins Auge sehen zu können. Doch sie ist nicht vergessen, sie ist immer bei uns.
Mein Vater
Er wollte nicht mehr leben, als er, nach mehreren OPs erblindet, auch noch einen Schlaganfall erlitt und fast gelähmt war. Ich habe ihm gern zugehört, wenn er Klavier spielte. Doch das kam selten vor. Er war sehr intelligent und schlagfertig. Immer wollte er perfekt sein, und selten zeigte er seine Gefühle. Ging er doch einmal ein wenig aus sich heraus, nannte er mich zärtlich „Dotschka“, was auf Russisch Töchterchen heißt. Dieses Wort von ihm zu hören, machte mich jedes Mal sehr glücklich.
Als mein Vater nach vielen unbewältigten Krankheiten den Freitod wählte, traf mich das Geschehen besonders tief. Ich sah auch darin wieder eine Schuld meinerseits. Hatte mein Vater doch am Vortag seines Todes noch mit mir telefoniert und mir seine Sorgen mitgeteilt. Ob ich nicht genug darauf eingegangen war? Hätte ich den Freitod verhindern können? Froh war ich nur, dass unser beider Verhältnis am Ende seines Lebens wieder ein sehr gutes geworden war. Das war nicht immer so, denn ich hatte lange Zeit Angst vor ihm gehabt. In seiner Brieftasche fand ich einmal beim Herumstöbern ein Gedicht. Dem Zustand des Papiers nach zu urteilen, musste es schon lange unbeachtet in einem Fach gelegen haben. Es kamen diese Worte vor, von denen ich annahm, dass sie schmutzig sind. Ich war einmal für solch ein Wort bestraft worden. In der Erntezeit kamen größere Jungen auf unseren Hof, die beim Einbringen der Ernte, beim Abladen der Garben und beim Transportieren von Stroh auf die Scheune halfen. Meistens konnte ich mich vor ihnen verstecken, weil ich sie nicht mochte. Doch einmal gelang es mir nicht und sie riefen mich: „Komm mal her und sprich uns den Satz nach: Die Hühner picken. Du musst aber dabei die Mundwinkel breitziehen.“ Wegrennen ging nicht mehr, also tat ich, was die beiden Jungen mir auftrugen. Schallendes Gelächter ertönte, aber ich wusste nicht, was daran so amüsant zu sein schien. Es kam ja kein P beim Breitziehen der Mundwinkel heraus, sondern ein F. Ja und? Ich begriff nicht und kam mir dumm vor. Ich kannte dieses neue Wort mit F nicht. „Nun geh zu deiner Mutter und führe ihr das Kunststück vor, sie lacht bestimmt genauso wie wir.“ Gesagt, getan. Sie lachte nicht. Ich bekam böse Worte von ihr zu hören. „Schämst du dich nicht, so etwas zu sagen?“, empörte sie sich. Ich wusste nicht, warum ich mich schämen sollte. Aber ich schlussfolgerte, dass dieses Wort etwas beinhaltete, wofür man sich zu schämen hatte und was man nicht tun durfte, ohne dafür bestraft zu werden.
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