Die Geschichte der frühen Jesus-Bewegung und der ersten schriftlichen Quellen über sie ist mit diesem gesamten Umfeld mehr oder weniger eng verflochten, zumal die Pharisäer nach dem Jüdischen Krieg mehr Geltung erlangten und schon im Jahr 70 den endgültigen Bruch mit den Christen für das Judentum vollzogen haben.28 Auch die Entstehung der Kirche und ihr späterer Stellenwert sind ohne das Römische Weltreich und dessen Untergang im fünften Jahrhundert nicht zu denken. Gerade die Gegnerschaft der Pharisäer, die mit der Kritik Jesu an ihrer peniblen Gesetzesauslegung und -befolgung beginnt, hat der Urgemeinde in Jerusalem und Palästina schwer zugesetzt.
Es verwundert deshalb nicht, dass die Apostelgeschichte in der ersten Texthälfte unter anderem auf den Pharisäer Paulus fixiert ist. „Lukas“ wirft ihm vor, dass er in Jerusalem an der Ermordung des hellenistischen Judenchristen Stephanus, der als erster christlicher Märtyrer gilt, mitgewirkt hat (Apg 7,54 - 8,1a und 22,20). Allerdings ist eine Beteiligung des Paulus’ an jener Aktion, historisch betrachtet, unwahrscheinlich, denn „Lukas“ hat diese Bemerkungen wohl nachträglich eingefügt resp. diesen Textabschnitt geschickt komponiert, um die nachfolgende Paulus-Bekehrung, die in der Apostelgeschichte gleich drei Mal geschildert wird (in den Kapiteln 9, 22 und 26), umso deutlicher herauszustellen. Je dunkler ein solch schändlicher Hintergrund gemalt wird, desto heller leuchtet das Licht der Bekehrung.29
Zudem ist anzumerken, dass die „lukanische“ Darstellung „in typischer Weise auf Jerusalem zentriert ist“. Es liegt jedoch nahe, „die antichristlichen Aktivitäten des Paulus in Damaskus anzusiedeln“, wofür die Textbefunde im Brief an die Galater (1,17 u. 1,22) sowie in der Apostelgeschichte (9,2) Hinweise liefern.30 Der Name „Stephanus“ taucht in den authentischen Paulusbriefen nicht auf.
Die jüdischen Hellenisten Jerusalems, die aus der Diaspora gekommen waren, hielten ihre Gottesdienste unter Verwendung der Septuaginta in griechischer Sprache, während die in Palästina beheimateten Juden, wie erwähnt, die ihnen vertraute aramäische Sprache pflegten. Ein Zirkel jener Hellenisten mit ihrem Wortführer Stephanus war nun zu den Anhängern des Jesus von Nazaret übergetreten, die von den Juden im Sinne einer Sekte „Nazarener“ genannt wurden.31 Die bereits bestehenden Spannungen zwischen den Juden und den Hellenisten eskalierten bezüglich der Gruppe um Stephanus dermaßen, dass dieser schließlich verhaftet und gesteinigt wurde. Seine Gemeinschaft, die ein eigenes, sieben Personen umfassendes Leitungsgremium hatte, wird vorher – und ähnlich wie Jesus – „Anstoß an den Missständen des Tempelkultes und kleinlichen Praktiken der Gesetzesauslegungen“32 genommen haben und musste nach dem Tod des Stephanus aus Jerusalem fliehen.
Von ihnen ging danach die erste Missionierung in den, nach christlicher Ansicht, heidnischen Gebieten aus, die der Apostel Paulus in weitaus größerem Umfang fortsetzte. So begründeten sie etwa die aus Juden- und Heidenchristen bestehende Gemeinde in Antiochia (Syrien). Und dort „nannte man die Jünger zum ersten Mal Christen“ (Apg 11,26). Bischof Ignatios von Antiochia (gest. 117 n. Chr.) verwendete außerdem in einem Brief erstmalig den Ausdruck „katholische“ Kirche, was „allgemein“ oder „auf das Ganze bezogen“ bedeutet.33
Die „Hebräer“, also die aramäisch sprechenden Judenchristen, mit den von Jesus erwählten Zwölf Aposteln an der Spitze – die Zwölfzahl symbolisiert die zwölf Stämme Israels –, konnten hingegen in Jerusalem verbleiben. Die Judenchristen wollten sich nämlich gar nicht von den jüdischen Ritualgesetzen, den Reinheitsgeboten oder der Beschneidung abwenden. Auch Paulus stand für sich selbst dazu. Er vertrat jedoch im Rahmen seiner Missionierungen die Ansicht, dass sich Heiden, die sich zum Christentum bekennen wollen, der Befolgung dieser Gebote oder der Beschneidung nicht zu unterziehen brauchen. Genau das aber führte zu einem Streit mit Petrus und den „Jerusalemer Autoritäten“, obwohl jene dann doch die „gesetzesfreie Heidenmission anerkannt“ haben.34 Nach dem Jahr 70, also nach der Zerstörung Jerusalems und der Verbannung aus dem Judentum, verloren die Judenchristen allerdings erheblich an Bedeutung und wurden zu einer Randgruppe innerhalb der heidenchristlichen Kirche.
Die Bekehrung des Paulus’ war wohl der einschneidendste „Schicksalsmoment“ in seinem Leben. Er dürfte knapp 30 Jahre alt gewesen sein, als er eine Gotteserfahrung machte, die ihn zutiefst veränderte. Paulus hatte sich in seiner Funktion als Pharisäer von Jerusalem aus auf den Weg nach Damaskus begeben. Er „wütete immer noch mit Drohung und Mord gegen die Jünger des Herrn“ , wie „Lukas“ in der Apostelgeschichte mitteilt (9,1); und Paulus hatte Sendschreiben des jüdischen Hohenpriesters in Jerusalem bei sich, um in Damaskus „die Anhänger des (neuen) Weges, Männer und Frauen, die er dort finde, zu fesseln und nach Jerusalem zu bringen“ (Apg 9,2).
Doch kurz vor Damaskus wurden seine ganzen Pläne von einem Augenblick auf den anderen nichtig, als „ihn plötzlich ein Licht vom Himmel umstrahlte. Er stürzte zu Boden und hörte, wie eine Stimme zu ihm sagte: Saul, Saul, warum verfolgst du mich? Er antwortete: Wer bist du, Herr? Dieser sagte: Ich bin Jesus, den du verfolgst“ (Apg 9,3 – 5). Und nachdem Paulus wieder aufgestanden war und die Augen geöffnet hatte, konnte er nicht mehr sehen; als hätte ihn das göttliche Erstrahlen seines Augenlichts beraubt. Seine Begleiter, die namentlich nicht genannt werden, hatten zwar die Stimme gehört, aber sonst gar nichts zu erkennen vermocht. Sie nahmen Paulus „bei der Hand und führten ihn nach Damaskus hinein. Und er war drei Tage blind, und er aß nicht und trank nicht“ (Apg 9,8 - 9).
Selbst wenn man das dramaturgische Geschick des Autors negiert und vielleicht sogar, da die Begleiter mit den Augen nichts wahrgenommen haben, eine innere Vision in Betracht zieht, so ist Paulus trotzdem davon derartig geblendet und über die Maßen erschüttert gewesen, dass ihn das Erlebnis einfach umgeworfen hat – äußerlich wie innerlich. Die drei in der Apostelgeschichte vorkommenden Schilderungen des Vorgangs weisen freilich Widersprüche auf. In Kapitel 22, Vers 9, sehen die Paulus-Begleiter zwar das helle Licht, aber sie können die Stimme Jesu nicht hören; in Kapitel 25, Vers 14, stürzen auch die Begleiter aufgrund des Licht-Phänomens zu Boden, aber Paulus erblindet diesmal nicht. Doch durch solche Variationen soll lediglich ein abwechslungsreicheres Bild entstehen.35 Sie sind folglich wohl stilistischer Natur. Paulus hat zwar als Pharisäer Gewalt angewandt, und er mag für Todesurteile gestimmt haben, „aber getötet hat er selbst nicht“.36 „Lukas“ will Paulus schließlich nicht demontieren, sondern ihn mit Bedacht als den Protagonisten der Völkermission literarisch aufbauen.
Im 1. Brief an die Gemeinde in Korinth (9,1 u. 15,8) sowie im Brief an die Galater (1,12 – 16) erwähnt der Apostel – ohne jedoch näher darauf einzugehen –, dass sich Jesus Christus ihm in einer Erscheinung offenbart habe. Er hält sich für den Letzten der Augenzeugen, denen Jesus nach seiner Auferstehung erschienen ist. Darin erkennt Paulus seine Berufung, nämlich als „Apostel“ des Herrn („Bote“ oder „Gesandter“) missionarisch tätig zu werden und das Wort Gottes zu verkünden. Der Apostel-Begriff wird für ihn zu einer Art Berufsbezeichnung, mit dem er sich in den christlichen Gemeinden „ausweist“ und sich von selbsternannten oder falschen Predigern und Aposteln unterscheidet. Sein Handeln wird durch den an ihn direkt ergangenen Auftrag des Herrn legitimiert. Und das gilt noch entschiedener für die Zwölf Apostel, die von Jesus persönlich für die Nachfolge bestimmt wurden und an deren Seite Paulus stehen möchte.
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