1 ...6 7 8 10 11 12 ...27 Dieser neue Wohlstand landet allein in den Taschen des neuen Mittelstandes, nicht oben in der Adelsschicht und erst recht nicht bei den Arbeitern. Während die Preise zwischen 1741 und 1789 um 65 Prozent steigen, steigen die Löhne nur um 22 Prozent. Wenn Arbeiter streiken, hungern die Unternehmer sie so lange aus, bis sie ihre Arbeit wieder aufnehmen – zu den Bedingungen der Unternehmer. Und wenn nicht (wie die Seidenarbeiter 1774 in Lyon), schlägt die Armee die Arbeiter in die Fabriken zurück. Ihr Hass richtet sich nun nicht mehr nur gegen ihre Arbeitgeber, sondern auch gegen die Regierung. 1786 beklagen sie, sie könnten selbst mit 18-stündiger Arbeit ihre Familien nicht ernähren. Die Massen, die 1789 ihr Leben riskieren, als sie der Staatsmacht trotzen, sind hungrig und wütend. Aber schon mit einer Brotpreissenkung wären sie zu beschwichtigen. Im Gegensatz zu den Bürgern und Unternehmern wollen sie, dass der Staat die Wirtschaft regelt, wenigstens beim Brotpreis. Damit sind sie ohne weiteres bereit, zum alten Regime zurückkehren, anstatt als Arbeiterklasse den Staat zu übernehmen. Politische Vertretung ist ihnen gleichgültig.
Anders als den Gebildeten aus den höheren Schichten. Diese überreden die besitzlose Masse, die Bastille zu stürmen (sie wird friedlich übergeben) und so den König daran zu hindern, das Militär gegen die Nationalversammlung einzusetzen. Damit gelingt es dem Mittelstand, die Unterschicht für seine Interessen einzuspannen: Ohnmächtig müssen die betuchteren Bürger im alten Königreich zusehen, wie Hof und Adel auf Kosten ihrer hart erwirtschafteten Steuern im Luxus leben, während ihnen jeder schnöselige Baron arrogant begegnet, sie politisch nichts bestimmen können und ihnen als kompetenten Bürgerlichen politische und militärische Ämter verweigert werden. Die paar schlecht bewirtschafteten Landgüter der Adeligen mit ihren ausgelaugt-ausgebeuteten Böden machen den »ersten Stand« wirtschaftlich zum zahnlosen Tiger. Er hat es versäumt, wie etwa die englischen Standesgenossen ins Unternehmertum einzutreten.
Auch sind die Zeiten um Jahrhunderte vorbei, als es für einen König die beste Wirtschaftsförderung bedeutete, Flächen an die Kirche oder Klöster zu übertragen, die daraus dann blühende Landschaften machen. 1789 sehen die Unternehmer den Klerus ein Drittel des Nationaleinkommens schlucken (wenn auch nicht nur für den Luxus der Bischöfe, sondern ebenso für soziale Aufgaben) und damit eine Theologie aufrechterhalten, die Gebildete schlicht als infantil empfinden. Die Ortspfarrer, in der Regel lauter und tugendhaft, müssen den größten Teil der Einnahmen an die adeligen Bischöfe abgeben und daher sowohl der Kirche dienen als auch ihren Lebensunterhalt selbst auf dem Feld erarbeiten. Viele von ihnen werden bei der Revolution den dritten Stand unterstützen, während die Bischöfe gegen gesellschaftliche Veränderungen sind. Es ist nicht die Schuld des Kirchenvolkes, wenn die Institution – und eng an ihr Zeugnis gekoppelt der Glaube an Gott – an Boden verliert. Die Zahl der Priester geht immer weiter zurück, alte Klöster zerfallen – zwischen 1766 und der Revolution sinkt ihre Zahl von 26.000 auf 17.000, manche nur noch mit wenigen Mönchen belebt.
Während die Dörfler gläubig sind – sie werden ihren Glauben in der Revolution gegen den aggressiven Atheismus der Pariser Zentralregierung mit Aufständen verteidigen –, glaubt in den Städten nur noch jeder zweite gebildete Mann an Gott. Die französische Kirche fordert daher 1770 eine Medienzensur und schickt dem König eine Denkschrift über »die gefährlichen Konsequenzen der Freiheit des Denkens und des Druckens«.12 Das ist keine gute Idee. Denn damit behauptet sie, sie hätte keine besseren Argumente, von dem persönlichen Beispiel der Kirchenfürsten ganz zu schweigen. Wer die Gewalt des Staates in Anspruch nimmt, um sich durchzusetzen (wie alle Staatskirchen), der verliert jede ideelle Unterstützung. Skeptizismus wird bei den Adeligen Mode. Und wenn sie sonntags in die Kirche gehen, dann nur, damit ihre Diener eine bessere Meinung von ihnen haben.
Ärgerlich daran ist für die Bauern und geschäftstüchtigen Bürger, also für den dritten Stand, dass sie alleine Steuern zahlen – Adel und Klerus sind befreit. Hinzu kommt, dass sich der König selbst das Recht verleiht, jederzeit zu erklären, der Staat sei bankrott und das vom Mittelstand geliehene Geld verloren. Nun spitzt sich Ende der 1780er Jahre die Situation zu: Der König ist bereits ausweglos verschuldet. Die Regierung will Staatsanleihen nicht mehr in fester Edelmetall-Währung, sondern nur noch in Papiergeld auslösen, dessen Wert durch Inflation aufgefressen wird. Die steuerzahlende Mittelklasse hat plötzlich Angst um ihr Erarbeitetes und ist nicht mehr bereit, sich ihren Reichtum von Arroganten und Unfähigen gefährden zu lassen.
Es geht den Bürgern also um ihre eigene Brieftasche und darum, wenigstens kontrollieren zu dürfen, wie die unfähige Staatslenkung das sauer erarbeitete Geld der Gewerbetreibenden ausgibt. Von den 26 Millionen Franzosen gehören über 25 Millionen weder dem Adel (erster Stand) noch dem Klerus (zweiter Stand), sondern eben dem dritten Stand an – aber jeder der drei Stände hat in der Generalversammlung dasselbe Stimmgewicht. Da die oberen beiden Stände mit der Monarchie stimmen, haben die Bürger von vornherein verloren. Ihnen bleibt gar nichts anderes mehr übrig, als sich zur eigentlichen politischen Macht, zum Repräsentanten der ganzen Nation, zu erklären.
Neues destabilisiert die Gesellschaft
Die Französische Revolution vollzieht auf der politischen Ebene nach, was auf der wirtschaftlichen und religiösen Ebene schon begonnen hat. Sie stürzt nicht nur einen Bereich der Wirklichkeit, sondern alle Systeme: Wirtschaft, Glaube und Staat. Technische Entwicklungen und die dafür nötigen institutionellen Innovationen haben freie Bahn. Die Dämme der bisherigen Gesetze, Bräuche und Frömmigkeit brechen schneller, als eine neue funktionierende Ordnung errichtet werden kann. Alle Emanzipationsbewegungen sind am Anfang destruktiv. Als die Konstituierende Versammlung nach zwei Revolutionsjahren die Macht erobert hat, schafft sie die Feudalherrschaft der Adeligen ab, konfisziert Kircheneigentum, legalisiert Organisationen und Zusammenschlüsse der Kaufleute und Fabrikanten, verbietet aber – von wegen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – alle Zusammenschlüsse der Arbeiter. Die chaotische Volksherrschaft mit massenweisen Hinrichtungen wird erst domestiziert durch die Rückkehr zu einem Alleinherrscher Napoleon, später dann durch eine funktionierende Gewaltenteilung. Das macht Hoffnung, daran zu glauben, dass die destruktiven Erscheinungsweisen eines befreiten Individualismus heute auch wieder domestiziert werden können – durch eine ausbalancierte Kooperationsfähigkeit.
Es ist jedoch glatt gelogen, darüber zu klagen, wie alles immer schlimmer wird, wo doch früher alles so gut und die Menschen so gesittet und friedlich gewesen sind. Wahr ist, dass technische Veränderungen die Gesellschaft durcheinander rütteln und die alten Verhaltensmaßstäbe und Organisationsstrukturen destabilisieren, sodass der nächste Kondratieffzyklus mit chaotischen Begleiterscheinungen beginnt. Damit neue Strukturen aufgebaut werden können, müssen alte zerstört werden. Das Problem daran ist, dass es nicht gelingt, beides gleichzeitig und langsam zu gestalten.
1. Kondratieffabschwung Feudalismus macht Deutschland arm
Dass Deutschland im ersten Kondratieff ein armes Land bleibt, hat daher aus Sicht der Kondratiefftheorie gesellschaftliche Gründe: Wenn seine Bewohner nicht die (Infra-)Strukturen für eine neue Basisinnovation bereitstellen, dann machen sie ein paar neue Dampfmaschinen allein eben auch nicht wohlhabender. Auch wenn es am Anfang noch danach aussieht: Deutschland erlebt den ersten Kondratieff im Krieg als Hochkonjunktur. Im Ruhrgebiet blüht die Industrie kurz auf, weil sie die Kontinentalsperre vor englischen Waren schützt; die Bauern erzielen dank der hohen Nachfrage gute Preise. Doch nach dem Krieg haben die Deutschen als kaum industrialisiertes Land keine Chance im Wettbewerb. Sie profitieren zuwenig vom Aufschwung und sind vom Abschwung der 1820er/30er Jahre doppelt getroffen.
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