1 ...7 8 9 11 12 13 ...27 Schuld daran sind nicht die Engländer, die ihre Dampfmaschinen-Technologie hüten und Ingenieuren verbieten, ihr Wissen ans Ausland weiterzugeben; es liegt an der deutschen Gesellschaft selbst, die nichts von dem vorbereitet hat, was dieser neue Strukturzyklus braucht: Arbeiter, eine Unternehmerschicht, Kapital, einen Binnenmarkt, Transportwege wie die Kanäle in Frankreich und England, und es fehlt an Ballungszentren als Absatzgebiet, die größere Ressourcen für Investitionen mobilisieren können. Die deutschen Adeligen schauen auf Geschäftsleute herab – sie lassen niemanden von ihnen in ihre Kreise einheiraten. Mutigen fehlen Anreize, Kohle und Erze im Boden industriell zu verwerten. Zünfte schränken gewerbliche Freiheit ein. Jedes Fürstchen kocht seine eigene Suppe.
Bauern sind je nach Region noch an ihren Boden oder als Leibeigene an den Feudalherrn gebunden. Das ändert sich, als Preußen 1806 bei Jena von Napoleon gründlich geschlagen wird: Der Staat sieht ein, dass er mit gepressten Söldnern keine Schlachten gewinnen kann, sondern nur mit freien Soldaten, die für einen Staat kämpfen, von dem sie zumindest glauben, dass er ihre Sache sei. Also kommt es in Deutschland zur Bauernbefreiung (bis das revolutionäre Frankreich besiegt ist – danach werden die Möglichkeiten, ein freier Bauer zu werden, wieder zugunsten der Grundherren eingeschränkt).
Aus Leibeigenen werden lohnabhängige Landarbeiter. Das hat auch einen Vorteil für den Grundherrn: Er ist nicht mehr verpflichtet, seine Bauern sozial zu versorgen – ihre Arbeit ist mit dem Tagelohn abgegolten. Und wenn es ihnen schlecht geht, weil sie oder ihre Kinder krank werden, dann ist das ihr Problem. Dort, wo Kleinbauern den Boden eines Grundherrn beackern und dafür bislang einen Großteil der Ernte abgeben müssen, wird es möglich, den Boden abzukaufen. Dafür nehmen viele Bauern einen Kredit auf, der sich auch gut bedienen lässt – zumindest während des ersten Kondratieffaufschwungs in den Napoleonischen Kriegen, als die Nachfrage groß ist: Die Preise, welche die Bauern für Lebensmittel erzielen, sind hoch, obwohl die Ernten steigen. Weideland und dörfliche Gemeinschaftsflächen werden mit der Bauernbefreiung in Äcker umgewandelt, Tiere kommen in den Stall. Statt Dreifelderwirtschaft (jedes dritte Jahr bleibt ein Acker brach liegen) kann der Boden dank wechselnder Fruchtfolge und Stallmist jedes Jahr bebaut werden. Der Markt saugt die gestiegenen Ernteerträge auf.
Aber nur, bis der Krieg vorbei ist und die große Nachfrage ausbleibt, welche die Dampfmaschinen in England und Frankreich nach sich gezogen haben. Die Kontinentalsperre hat vor 1813 verhindert, dass die Engländer Stoffe und Eisen auf dem europäischen Festland verkaufen können. Sobald sie aufgehoben ist, ist Deutschland der vollen Wucht einer britischen Industrie ausgesetzt, die ihr ein bis zwei Generationen voraus ist. Den Deutschen geht es wie heute Entwicklungsländern: Was sie produzieren, können die Engländer und auch Franzosen längst viel besser herstellen, mit viel weniger Kosten, einem höheren Gewinn und zu einem günstigeren Preis. Es ist das Wettrennen eines Fahrradfahrers gegen ein Auto auf der freien Landstraße.
Die kurze Blüte von Bergbau und Metallindustrie in Essen und Düsseldorf verwelkt. Während Städte weniger, oder zumindest viel langsamer als bisher Agrargüter nachfragen, wächst das Agrarangebot weiter. Die Preise für Getreide sinken. Das bringt die gerade erst befreiten, selbständigen Bauern in Not. Ihre Landstreifen, die sie dem ehemaligen Feudalherrn abgekauft haben, sind nicht groß genug, um wirtschaftlich zu sein. Viele Kleinbauern im Rheinland und in Südwestdeutschland haben für ihre eigene Scholle in der Hochkonjunktur Kredite aufgenommen. Nun ringen sie um ihr Überleben, weil während der Agrarkrise in den 1820ern die Preise fallen – wie immer in einem Kondratieffabschwung. Zwar leiden auch Handwerk und die kleine Industrie unter verschärftem Wettbewerb und weniger Umsatz bei gleichen Fixkosten, doch nirgends sinken die Preise so sehr wie in der damaligen »old economy«, der Landwirtschaft.13 Ein Bauer muss eine immer größere Menge an Getreide in die Stadt karren, um dafür ein Werkzeug aus Eisen zu kaufen. Viele können jetzt ihre Höfe nicht mehr halten. Die anderen aus der Leibeigenschaft befreiten Bauern, die jetzt als Landarbeiter leben, werden von den Grundherren einfach nicht mehr beschäftigt. Sie wandern aus oder suchen eine Lebensexistenz in den Städten. Eine Arbeiterschaft, die für die Industrialisierung nötig ist, entsteht in Deutschland also erst dann, als es im langen Abschwung an ausreichenden anderen Arbeitsmöglichkeiten fehlt.
Oder ist das alles nur ein deutsches Problem gewesen und es hat nie einen Abschwung des ersten Kondratieff gegeben? Wenn Wirtschaftshistoriker heute das britische Bruttosozialprodukt schätzen, zeigen die Zeitreihen über die 1820er und 1830er hinweg ständig nach oben. Und doch kommt es auch in England zu einer schweren Rezession mit fallenden Preisen und einer geschätzten Arbeitslosigkeit von 20 bis 30 Prozent der arbeitsfähigen Erwachsenen, wie es Romane von Charles Dickens, zum Beispiel »Hard Times«, überliefern. Das harte Leben im Gefolge der »New Poor Law« in den 1830ern folgt dem heutigen Muster, aus Geldmangel die Arbeitslosenhilfe zu kürzen oder deren Bezug zu erschweren. In der Kultur spiegeln Biedermeier und Romantik das Lebensgefühl der wirtschaftlichen Stagnationsjahre. Nein: Es hat einen Kondratieffabschwung gegeben, und zwar für alle.
Warum Arbeitslosigkeit ein Produktivitätsproblem ist
Die weltweite Agrarkrise bricht nicht deshalb aus, weil die Landwirtschaft so produktiv geworden ist, sondern weil die Gesamtwirtschaft – so wie heute – nicht ausreichend produktiver wird: Sonst könnten die Bauern in produktiveren Branchen arbeiten als auf ihrem kleinen Hof, den sie mangels Spezialisierung und mangelnder Größe ineffizient bewirtschaften. Das Elend der Bauern ist Ausdruck verdeckter Arbeitslosigkeit. Die Soldaten sind aus den Kriegen heimgekehrt und die Jugend stirbt nicht mehr auf den Schlachtfeldern. Erbteilungen verkleinern die Ackerfläche pro Bauer weiter. Deren Alternativen sind nicht verlockend: Elendshütte in der Stadt, nur mit viel Alkohol zu ertragen. Oder wochenlang auf einem Auswandererschiff unter Deck und frieren in der Fremde.
Aber die Krise der 1820er/30er muss kommen, weil man Menschen nicht so schnell ändert (oder heute auf einen kooperativen Arbeitsstil umstellt), wie man eine Dampfmaschine erfindet: Niemals würden die Bauern freiwillig ihren generationenlangen Lebensrhythmus verlassen und sich dem Takt der Maschinen unterwerfen, niemals würden die Fürsten den Bürgern Freiheiten gewähren. Nur wenn sich zu viele Menschen in den alten Branchen drängeln, deren Produktivität der jeweiligen new economy (hier Textil und Metall) völlig hinterherhinkt, wird der Druck irgendwann groß genug, den Beruf und damit das ganze private Umfeld so radikal zu verändern; nur dann stehen die Ressourcen bereit, den nächsten Strukturzyklus zu erschließen.
Der Kondratieffzyklus legt den Rückwärtsgang ein, weil Wirtschaft und Gesellschaft nicht mehr produktiver werden. Im Aufschwung ist die Produktivität gestiegen, weil man immer noch mehr vom Gleichen macht; im Abschwung dagegen sinkt die Produktivität gerade deshalb, weil man immer noch mehr vom Gleichen macht, aber das technische System jetzt seine Grenze erreicht hat. Kondratieff nennt das die »Realkostengrenze«, um zu verdeutlichen, dass es sich hier nicht um einen Mangel an Geld handelt: Während eines Strukturzyklus produziert der Mensch mit einer bestimmten Kombination aus Arbeitskraft und -kompetenz, Maschinen auf einem bestimmten technischen Niveau mit einer bestimmten Mischung aus Rohstoffen. Irgendwann wird einer dieser Produktionsfaktoren so knapp, dass sich weiteres Wachstum nicht mehr lohnt, weil er sich nicht einfach von einem Jahr auf das nächste schnell vermehren lässt. Fünf rechte und sieben linke Schuhe ergeben nicht sechs Paar, sondern eben nur fünf Paar Schuhe.
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