Deutschland kann 1924/25 nur 57,5 Prozent des Handelsvolumens von 1913 exportieren. Seine Handelsbilanz bleibt stets negativ – das heißt, Deutschland kauft zum Beispiel im Jahr 1925 ein Viertel mehr im Ausland ein, als es umgekehrt ins Ausland verkaufen kann. Die Lücke in Höhe von drei Milliarden Mark finanziert das freie, weltweit nach Anlagemöglichkeit suchende amerikanische Fremdkapital – was Deutschland so anfällig macht für den Moment, als die Amerikaner in der Weltwirtschaftskrise ihr kurzfristig verliehenes Kapital aus Deutschland abziehen.
Aber auch die Nachbarn stehen finanziell auf wackeligen Beinen: Ihre Kriegsausgaben haben sie mit US-Krediten finanziert. Weil es lange Zeit so ausgesehen hat, als wenn Deutschland siegen würde, haben die Amerikaner um ihr Geld fürchten müssen und sind auch deswegen in den Krieg gegen Deutschland eingetreten. Danach bitten Frankreich und England die USA, ihnen einen Teil ihrer Schulden zu erlassen – was die USA kategorisch ablehnen. Anders als später im Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg haben sie keine Ressourcen zu verschenken. Das ist der Grund, warum Frankreich so unerbittlich Reparationen von Deutschland fordert. Um dem Nachdruck zu verleihen, marschiert es 1923 ins Rheinland ein und löst damit eine Hyperinflation aus.
Normalerweise wird Geld vor allem am Ende eines langen Aufschwungs weniger wert, wenn in der Hochkonjunktur alle Produktionsfaktoren knapp sind und die Preise steigen. Die Inflation von 1923 dagegen – zu Beginn des langen Abschwungs – ist künstlich: Schon während des Krieges hat der Staat vier von fünf Mark, die er ausgibt, auf Pump finanziert; 1919 immerhin noch die Hälfte. Als das Reich während des Ruhrkampfes die Gehälter der Beamten im französisch besetzten Rheinland weiter bezahlt, finanziert es 90 Prozent seiner Ausgaben einfach dadurch, dass die Reichsbank eben mehr Papiergeld druckt. Die nicht durch reale Güter gedeckten Ausgaben entwerten die Reichsmark rapide. Der Mittelstand verliert seine Ersparnisse, seine Kapitallebensversicherungen, seine Renten. Zusammen mit einem Haufen anderer konservativ-nationalistischen Kräfte versucht Hitler in diesen Wirren das erste Mal, die demokratische Regierung wegzuputschen.
Aber nicht nur der deutsche Handel wird behindert: Nach dem Krieg gibt es in Europa nicht mehr 14, sondern 27 verschiedene Währungen und 20.000 Kilometer zusätzliche Grenzen, die Fabriken von ihren Rohstoffen trennen, Stahlwerke von ihren Kohlegruben und landwirtschaftliche Gebiete von ihren Märkten. Der Krieg hat den Welthandel unterbrochen, aber der Waffenstillstand belebt ihn nicht wieder. Versuche zu Beginn der 1920er, zum Freihandel zurückzukehren, scheitern daran, dass plötzlich überall die Preise sinken (wofür eben nicht der Krieg, sondern die nachlassenden Produktivitätsfortschritte im Kondratieffabschwung verantwortlich sind).
Einige Länder subventionieren Exportgüter, um sie im Ausland überhaupt noch verkaufen zu können. Das hilft jedoch nicht der eigenen Ausfuhr, sondern verschwendet die eigenen Steuergelder ebenso wie die der anderen Staaten, die dasselbe tun (das haben wir 2009 mit der Auto-Abwrackprämie erlebt). Außerdem kämpfen alle darum, den Devisenkurs ihrer Währung am schnellsten abzuwerten – damit sie ihre Produktion noch billiger verkaufen können (zu diesem Zweck drucken die USA heute Dollar in großen Mengen ohne entsprechenden Gegenwert). Das Konzept scheitert an der Gegenreaktion des Auslands. Der Welthandel schrumpft. Komparative Handelsvorteile – ein Land kann Produkt A besser herstellen als Produkt B, im Nachbarland ist das genau umgekehrt – verfallen ungenutzt. Dadurch stagniert die Produktivität nicht nur, sie sinkt sogar, weil man mit mehr Ressourcen aufwändig etwas herstellt, was andere eigentlich viel besser können. Wohlstand und Beschäftigung gehen zurück.
Typisch für den Kondratieffabschwung, fangen auch die Amerikaner an, Zollwände zu mauern, obwohl sie doch während des Krieges so erfolgreich die Märkte der anderen (vor allem der Deutschen) besetzt haben. 1921 verbieten sie kurzerhand, deutsche Farbstoffe zu importieren, um die eigene Farbindustrie zu schützen. Die gab es bis 1914 gar nicht, sie entstand erst im Krieg mit Hilfe von einkassierten deutschen Patenten. 1922 folgt ein Gesetz mit den höchsten Außenzöllen in der Geschichte der USA. Sich selbst autark zu versorgen, ohne auf andere Länder angewiesen zu sein – am meisten wird Nazi-Deutschland darum (erfolglos) kämpfen. Doch auch hier gilt, dass Hitler nur konsequenter fortsetzt, was schon vorher üblich gewesen ist.
Auch die Landwirtschaft leidet in den 20er Jahren weltweit. Während die Preise für Lebensmittel und für Ackerland in den USA im Krieg hochschnellen und selbst bisher nicht genutzte Gebiete etwa in Lateinamerika bebaut werden, fallen die Preise danach wieder rapide. Amerikanische Landwirte, die sich Böden dazugekauft haben, gehen bankrott (das ist derselbe Mechanismus wie im ersten Kondratieffabschwung, als die Bauern ihre Kredite nicht mehr bezahlen konnten, die sie im Aufschwung ihren ehemaligen Grundherren abgekauft hatten). Einige Länder versuchen, das Überangebot einzuschränken, indem sie es gar nicht erst auf den Markt bringen. Brasilien – damals stellt es 60 bis 70 Prozent des Kaffees der Welt her – schüttet ihn tonnenweise ins Meer. Das hebt aber nicht wie erhofft den Preis, sondern ermutigt andere Anbieter, ebenfalls Kaffee auf den Markt zu bringen.
Fazit: Reparationen, Handelskriege, sinkende Preise, Zinsen fast bei null und Überkapazitäten – die Weltwirtschaftskrise ist keine Folge des Ersten Weltkrieges, sondern die Folge eines erschöpften Kondratieffzyklus. Die hohe Arbeitslosigkeit entsteht also nicht, weil die Zinsen und Löhne zu hoch sind oder die Geldmenge zu niedrig, sondern weil das Produktivitätswachstum stagniert und es daher an Investitionsmöglichkeiten und Beschäftigung fehlt. Der technische Fortschritt in den altbekannten Branchen macht nur mittelfristig immer mehr Arbeiter überflüssig. Anders als später beim Computer begrüßen die Gewerkschaften der 1920er Jahre den technischen Fortschritt: Maschinen ersetzen die schweren, gesundheitsschädlichen und abstoßenden Arbeiten an Hochöfen, in der Fabrikhalle oder unter Tage. Für Arbeitervertreter ist der technische auch der Schlüssel zum gesellschaftlichen Fortschritt.
Beispiel Bergbau: Hauten die Bergleute 1913 noch fast alle Kohle mit Hand und Hacke oder vorbereiteten Sprengungen aus dem Untergrund, arbeiten sie zunehmend mit elektrischen Presslufthämmern: 1925 werden schon über ein Drittel und 1929 über 90 Prozent der geförderten Kohle mit Presslufthämmern gehauen. Dementsprechend weniger Bergleute sind für die Nachfrage nötig: Ihre Zahl geht von 545.000 (1922) auf 353.000 (1929) und 190.000 (1932) zurück. Typisch für eine Erschöpfungszeit ist auch, dass die Arbeitszeit kürzer wird, weil es ein Überangebot an Arbeitssuchenden gibt: von 57 (1910/14) und 50,5 (1925) auf 41,5 Stunden in der Woche (1932). (Im langen Aufschwung, wenn gar nicht genug produziert werden kann, steigt die Arbeitszeit – wie in den 1950er Jahren und in den New-Economy-Berufen der 1990er Jahre des fünften Kondratieffaufschwungs.)
Die Menschen werden aber nicht deshalb arbeitslos, weil die Wirtschaft jetzt so produktiv geworden ist – die Produktivität pro Arbeitsstunde steigt zwar weiter, aber viel langsamer als im Kaiserreich und in den ersten 20 Jahren der Bundesrepublik, als die Volkswirtschaft boomte. Die Arbeitslosigkeit der 20er Jahre entsteht, weil das neue technologische System noch nicht produktiv genug ist, um Hunderttausende von Arbeitskräften ausreichend effizient einzusetzen. Deswegen investieren die Unternehmen selbst in den relativ gefestigten Jahren 1925 – 29 auch nur 10,5 Prozent des Nettosozialprodukts – im Kondratieffabschwung fehlen Investitionsmöglichkeiten. Das ist im langen Aufschwung vor 1914 und in den 1950ern ganz anders gewesen: Damals werden netto 15 Prozent des Sozialproduktes investiert.
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