Rainer Buck
FJODOR M. DOSTOJEWSKI
Sträfling, Spieler, Seelenforscher
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufbar.
ISBN 9783865065957
© 2013 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers
Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers
Satz: Harfe PrintMedien, Bad Blankenburg
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014
www.brendow-verlag.de
Cover
Titel Rainer Buck FJODOR M. DOSTOJEWSKI Sträfling, Spieler, Seelenforscher
Impressum Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 9783865065957 © 2013 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers Satz: Harfe PrintMedien, Bad Blankenburg 1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014 www.brendow-verlag.de
Prolog
Armenhospital, Landleben und Internate
Zerfall der Familie
Entkommen in die Literatur
„Der herrlichste Augenblick in meinem Leben“
Gegenwind
Zwischenbilanz
Im Kerker
Dem Tod ins Auge geschaut
Im Totenhaus
Hindernisreiche Rückkehr ins Leben
Liebe wird zum Verhängnis
Schwieriger Neuanfang
Polina – die „Femme fatale“
Auslandsreisen und Turbulenzen
Weitere Erschütterungen
Schuldsklaverei
Gestrandet in Wiesbaden
Schriftsteller unter Druck
„Verbrechen und Strafe“
Flucht ins Ausland
Sieben Wochen Hölle: Baden-Baden
Tragödie in der Schweiz
„Der Idiot“
Von Florenz ins Elbflorenz
„Die Dämonen“
Befreiung
Rückkehr nach Russland
Der goldene Lebensherbst
Dostojewskis Spätwerk
„Die Brüder Karamasow“
Die Puschkin-Rede
Abschied
Epilog
Bibliografischer Zettelkasten
Danksagung und nützliche Internetadressen
Der junge Mann steht in der zweiten Reihe. Vielleicht eine Minute Leben bleibt ihm noch. Drei Pfähle sind auf der Mitte des Platzes errichtet. Die ersten Todeskandidaten sind dort bereits angebunden. Einer von ihnen, sein Kamerad Petraschewski, wehrt sich standhaft dagegen, dass ihm eine Kapuze übergestülpt werden soll. Das Erschießungskommando wartet.
Sein Blick ist jetzt auf die Kuppel der nahen Kirche gerichtet. Sonnenstrahlen spiegeln sich dort, der warme Goldton bildet einen bemerkenswerten Kontrast zu der Frische des klaren Wintermorgens. Dieses Schauspiel zieht die Augen des Delinquenten Fjodor Dostojewski an, während die letzten Gedanken seinem älteren Bruder Michail gehören, dem vertrautesten seiner Freunde.
Was noch tun in dieser einen Minute? Eine stumme Umarmung der neben ihm stehenden beiden Männer, von der Willkür zu letzten Weggefährten bestimmt. Vielleicht noch ein Gebet sprechen? Aber wozu, wenn man an dessen Sinn berechtigte Zweifel hegen muss? Sein Abgang aus dieser Welt würde im Grunde eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens sein: Es gibt keinen. Nicht wenn ein junger Mensch im Alter von 28 Jahren, noch vor kurzem als Genie und großer Hoffnungsträger der Literatur gepriesen, so einfach ausgelöscht werden kann – wegen sogenannter „revolutionärer Gedanken“, die nicht einmal die seinen sind, die er sich nur angeeignet hatte, weil er es gewohnt war, vieles zu durchdenken, in verschiedenen Schuhen zu wandeln. Das Leben wollte aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden, wenn es galt, die Tiefen der Existenz zu ermessen.
Nun ist sein Leben, sein Quantum Zeit auf dieser Erde, zerronnen. Könnte man doch noch einmal zurückgehen, noch einmal Freiheit atmen, souveräne Entscheidungen treffen, Pläne schmieden, Bekanntschaften schließen. Es gäbe noch so vieles zu denken, zu tun, zu schreiben!
*
Was sich da am 22. Dezember 1849 auf dem Semjonow-Platz in Sankt Petersburg abspielte, war eine grausame Komödie, die einen der 15 zum Tode Verurteilten sogar für immer in den Wahnsinn getrieben hat. Uns wurde das Todesurteil verlesen, man gab uns das Kreuz zum Kuss, über unseren Köpfen wurde das Schwert gebrochen, und wir wurden fürs Begräbnis eingekleidet , wird Fjodor Dostojewski am Abend desselben Tages in einem Brief an Michail die eigene Hinrichtung beschreiben. Endlich wurde alles abgeblasen, diejenigen, die schon an die Pfähle gebunden waren, wurden zurückgebracht. Dann wurde uns das Urteil verlesen, dass seine Majestät der Kaiser uns das Leben geschenkt habe.
Diese Scheinexekution war in dem an Dramatik reichen Leben Dostojewskis die sicher extremste Erfahrung. Ein auf Dramaturgie bedachter Autor würde daraus vielleicht einen Wendepunkt machen, aber das wirkliche Leben ist komplizierter. Dieser quälende Morgen, der ihn in Eiseskälte dem Tod entgegensehen ließ, machte Dostojewski zunächst einmal bewusst, wie kostbar Zeit sein kann. Aber sogleich war ihm klar, dass er auch als „Begnadigter“ noch nicht wieder im richtigen Leben angekommen war. Zehn Jahre Haft und Verbannung warteten auf ihn, die ersten vier im sibirischen Straflager. Viel mehr als das nackte Überleben würde er sich nicht zum Ziel setzen können. In der nächsten Zeit wäre er aller Möglichkeiten beraubt, die einem Schriftsteller eine Perspektive boten. Und das, obwohl er doch so voller Gedanken und Pläne war, Wichtiges und Wertvolles aufzuschreiben hatte. Würde das Zuchthaus seine Ideen nicht im Existenzkampf absterben lassen? Zwischen Angst, Niedergeschlagenheit und verbissener Hoffnung bewegten sich seine Gedanken. Zwei Tage später sitzt er in Ketten auf einem offenen Pferdeschlitten und tritt eine Reise ins Ungewisse an.
*
Wir wissen es heute: Dostojewski wird noch die Zeit zur Verfügung haben, das literarische Versprechen einzulösen, das er bereits 1846 mit seinem Roman „Arme Leute“ abgegeben hatte und das die meisten seiner in rascher Folge erschienenen Werke bestätigten.
Seine bedeutendsten Romane, die bis heute seinen weltweiten Ruhm begründen, standen noch aus, und sie bezogen ihre Tiefe und ihr Gewicht zu einem guten Teil aus den außergewöhnlichen Erfahrungen, die dem Autor durch Straflager, Verbannung und die daraus resultierenden Folgen auferlegt wurden. In der ihm aufgezwungenen angsteinflößenden Gesellschaft von Dieben und Mördern studierte er die Abgründe der menschlichen Seele. Später stürzte er sich in verzweifelte Beziehungen zu Frauen. In der Sehnsucht nach finanzieller Unabhängigkeit verfiel er der Spielsucht. Was er durchlebte und durchlitt, verarbeitete er zu Geschichten, in denen er die hintersten Winkel der menschlichen Existenz und die Abgründe der Seele durchleuchtete. Zuweilen schien er nur ein Chronist der Absurdität des menschlichen Strebens zu sein, doch besonders im letzten Jahrzehnt seines Lebens wurde er für viele Zeitgenossen zu einem prophetischen Hoffnungsträger.
Es ist lohnend, sich mit dem Leben Dostojewskis zu befassen, bekommt man damit doch einen Schlüssel zu einem besseren Verständnis einiger der faszinierendsten Bücher der Weltliteratur, die bis zur Gegenwart nichts an Aktualität eingebüßt haben. Dostojewski ist heute noch relevant, weil sich zentrale Existenzfragen nicht ändern. Das Gefälle zwischen Arm und Reich ist nicht überwunden, Normen und wirtschaftlicher Druck schaffen auch in unserer heutigen Gesellschaft „Erniedrigte und Beleidigte“ (so der Titel eines Dostojewski-Romans). Außerdem wirft eine gefallene und bedrohte Welt, in der Millionen Unschuldiger unter den Folgen von Willkür und Machtmissbrauch leiden oder wegen ihrer Armut zugrunde gehen, immer noch die Frage auf, die Dostojewski zeit seines Lebens umgetrieben hat: ob es denn wirklich einen Gott geben kann, der dem Elend seit Beginn der Menschheitsgeschichte seinen Lauf lässt?
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