Daß sich die Frage, was Kunst ist, nicht mehr verbindlich beantworten läßt, gehört deshalb heute zur kunstphilosophischen Erstsemesterausstattung. Daß sich, was man nicht definieren kann, auch nicht in der Weise lernen und lehren läßt, wie das ehedem die Zünfte und später die Akademien über Jahrhunderte für sich in Anspruch nahmen (und wie es noch die Teilnehmer des Dresdener Kunsterziehertages als selbstverständlich voraussetzten), scheint sich hingegen noch nicht wirklich herumgesprochen zu haben. Es ist nichtsdestoweniger wahr, und es betrifft den Kern jeglicher kunstpädagogischen Programmatik. Man muß nur einmal den Ausbildungsplan der École des Beaux-Arts etwa zur Zeit Ingres’ mit dem einer beliebigen deutschen Kunsthochschule von heute vergleichen, um den Unterschied anschaulich vorgeführt zu bekommen. An der Beaux-Arts war für alle Studenten der gleiche Kanon an Kenntnissen und Fertigkeiten verbindlich und jeder Professor empfand es, unabhängig von allen innerakademischen Richtungsstreitigkeiten und seiner persönlichen künstlerischen Handschrift, als seine selbstverständliche Aufgabe, ihn zu vermitteln. An zeitgenössischen Akademien wird zwar immer noch ein bunter Strauß unterschiedlichster Fächer angeboten, doch sind sie für die Studenten fast ausnahmslos fakultativ. Jeder Klassenprofessor agiert bei der Festsetzung der Ausbildungswege, -mittel und -ziele vollkommen autonom, ist also niemandem gegenüber rechenschaftspflichtig. Gegensätzliche und widersprüchliche Lehrauffassungen sind heutzutage deshalb auch nicht etwa die Ausnahme, sondern vielmehr die Regel. Die Zugehörigkeit zum Kollegium einer Akademie besagt nichts, aber auch gar nichts über die Kunstauffassung, die der Einzelne dort vertritt. Das institutionelle Drumherum bildet keine inhaltliche Klammer mehr, es dient vielmehr weitgehend pragmatischen Zwecken, wobei der Glaube an die Notwendigkeit gebündelter Ressourcen zweifellos weit vor den Hoffnungen rangiert, die mit der Bündelung von Lehrkompetenz (welcher Art auch immer) verbunden sein mögen.
An diesen Sachverhalt, den ich hier ausdrücklich nicht bewerten will,12 schließt meine zweite These an. Ich werde sie vorsichtshalber als Frage formulieren: Könnte es sein, daß die zeitgenössische Kunstpädagogik noch immer nicht die Konsequenzen aus der völligen Entgrenzung des Kunstbegriffs gezogen hat? Oder genauer: Wenn die Kunst kein übersichtliches Singularunternehmen mehr ist, wenn ihre Entwicklung wie ihre Bewertung nicht mehr dem über Jahrhunderte bewährten Prinzip der Sinnanreicherung durch ständigen gestalterischen Komplexitätsgewinn gehorchen, sondern eher ein reichhaltiges Panoptikum höchst individueller Zeichenwelten bilden, welcher Art ist dann das Kompetenzgefälle, das die Kunstpädagogik auszugleichen verspricht? Welchen Expertisevorsprung beansprucht sie wem gegenüber? Wie begründet sie ihren Vorrang als Lehrfach gegenüber konkurrierenden Angeboten wie beispielsweise der Kunst- und Kulturgeschichte oder den Bild- und Medienwissenschaften, aber auch gegenüber Kochen, Haushaltsmanagement, Yoga, Computer-Gaming oder Fliegenfischen?
Ich habe auf keine dieser Fragen jemals eine überzeugende Antwort erhalten. Aber vermutlich wären sie mir auch gar nicht erst in den Sinn gekommen, würden Kunstpädagogen im öffentlichen Diskurs nicht ständig monoman von der »Schaffung emanzipatorischer Handlungsfähigkeit« und anderen zivilisatorischen Herkulestaten delirieren, sondern sich statt dessen zur Abwechslung einmal wieder auf ihr angestammtes Kerngeschäft und dessen Vertragsinhalte besinnen. Das aber sind weder die Entwicklung und Vermittlung ästhetischer Theorie, Semiologie, Soziologie, Psychologie oder auch Hermeneutik der Kunst – dafür gibt es bekanntlich eigene, spezialisierte Wissenschaften, deren Ergebnisse zu popularisieren allenfalls eine Zusatzleistung kunstpädagogischen Unterrichts darstellen kann –, noch ist es die Rettung der Welt. Vielmehr ist es die praktische Anleitung zu individuellem gestalterischem Tun, sprich: die höchst anspruchsvolle Weitergabe der höchst anspruchsvollen mimetischen Kulturtechniken, von denen sowohl Kunst und Kunsthandwerk als auch die Kunst- und Werkerziehung ehedem einmal ihren Ausgang nahmen. Daß diese Techniken, sofern sie nur entsprechend kunstvoll vermittelt werden, mindestens ebenso bereichern und beglücken können wie alle konkurrierenden Lehrangebote, ist hinlänglich bewiesen. In welchem Maße sie auch für den zeitgenössischen Kunstbetrieb weiterhin von Bedeutung sind, kann deshalb herzlich egal sein – schließlich ist bislang noch niemand an einer Karriere als Konzeptkünstler gehindert worden, nur weil er zuvor zeichnen gelernt hatte. Es würde mich nicht wundern, wenn die intellektuelle Entkrampfung, die ein solcher Akt bewußter soteriologischer Askese nach sich zöge, auf Dauer allen Vertragsparteien gleichermaßen zugute käme.
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